Radikale KunstRockkonzert im Autokino, ist das wie Sex ohne Anfassen?
- Unser Autor war zu wenigen Tagen das erste Mal bei einem Autokino-Konzert, er hörte die kölsche Band „Brings“ auf dem Porzer Parkplatz.
- Das Erlebnis war kein Alltägliches. Im Gegenteil: Intensiv, emotional, traurig und radikal. Logisch, dass Peter Brings dabei ständig Tränen in den Augen hat.
- Das Autokino ist ein Anachronismus aus der Zeit des Wirtschaftswunders. Konzerte darin sind heute etwas ganz Besonderes.
Köln – Es ist eine fast surreale ironische Spitze, dass die Schatten von Fledermäusen durchs Scheinwerferlicht flackern, als die Musiker von Brings in einer lauen Abenddämmerung des 18. April 2020 ihr Konzert im Porzer Autokino beginnen. Seit einigen Wochen sperren wir uns ein – so, wie wir diese fledermausähnlichen Viecher einsperren, die das Virus in sich hatten und vermutlich an chinesische Tierhändler weitertrugen.
Die vermeintliche Spitze der Zivilisation, die sich die Tiere untertan gemacht und die Natur an den Rand gedrängt hat: Entzaubert durch einen unsichtbaren Anti-Batman, der nur ein paar Tröpfchen von Tier zu Mensch und Mensch zu Mensch braucht, um Jahrhunderte alte Kulturleistungen zu pulverisieren: von Handschlag und rücksichtsvollem Einkauf über Besuche von Theatern, Konzerten und Museen, von Gottesdiensten und Sportveranstaltungen bis zu Kreuzfahrten, Kaufhausbesuchen und der Herstellung von Waren.
Was ist eigentlich lebenswert?
Corona hat nicht nur dem globalen Turbokapitalismus den Zerrspiegel vorgehalten, das Virus hat unsere Vorstellungen von dem, was als lebenswert gilt, auf links gedreht: Freiheit und Entgrenzung durch Kultur gelten inzwischen als gefährlich. Es geht um größtmögliche Selbstkontrolle, um Freiheit in Fesseln. Welche Metapher wäre da besser als ein Rockkonzert im Autokino? „Wir haben lange überlegt, was man machen könnte. Bei der Idee, im Autokino zu spielen, dachte ich: Ja, das passt“, sagt Schlagzeuger Christian Blüm, dessen Vater Norbert Blüm, Arbeitsminister unter Kanzler Kohl, am Donnerstagabend an den Folgen einer Sepsis mit Lähmung abwärts der Halswirbelsäule gestorben ist.
An diesem viel zu warmen Aprilabend, an dem man sich über Waldbrände in Deutschland schon nicht mehr wundert, sitzen ein paar Hundert Paare und Familien in ihren Autos.
Autokino Köln-Porz: Klopapierfahnen und Lichthupen
Zurückgeworfen auf sich, einsam und zusammen. Wenn sie rausgehen, um ein Foto zu machen, kommt flugs ein Ordner mit Atemschutzmaske und gelber Warnweste, der bittet, sich schnell wieder einzuschließen. In Deutschland funktioniert das.
Die Menschen in den Autos lachen und weinen, sie schwenken Klopapierfahnen und Lichthupen. Sie haben in den vergangenen Wochen mehr Zeit miteinander verbracht als irgendwann sonst – bei manchen lief es gut, bei anderen weniger. Einige konnten den Dürrefrühling im eigenen Garten genießen, andere hatten Angst, die nächste Miete nicht mehr bezahlen zu können. Manche merkten, wie sehr ihnen Partner, Partnerin oder Familie helfen, andere, wie fremd sie sich eigentlich sind, wieder andere, wie einsam sie sind, ohne Kollegen, ohne Arbeit, ohne Aussicht. Einige konnten durch ihre Arbeit helfen, schufteten mehr denn je, andere mussten über Jahre aufgebaute Projekte begraben, meldeten Insolvenz an, durften ihre sterbenden Liebsten weder sehen noch würdig bestatten.
Gemeinsam einsam, aber zusammen
Gemeinsam einsam waren wir schon, manchmal auch solidarisch, aber zusammen, in einem Boot? Beim Konzert flackern Bilder von überfüllten Schlauchbooten im Mittelmeer über die Leinwand. „Lasst sie rein“, fordert der Hamburger Musiker Stefan Stoppok an der Seite von Brings.
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Wir saßen in den vergangenen Wochen höchstens zusammen im nationalen Boot, das auch längst Anachronismus sein sollte, und dass sich jetzt relativ sturmsicher anfühlt, mit einer vernünftigen Kapitänin, derweil viele große Schiffe von volltrunkenen Ottos (wie Dennis aus Hürth, der mit Brings auftrat und sich über Trump lustig machte, sagen würde) gesteuert werden. Oder wir schwankten im lokalen Boot, bei Balkon- und Vorgärtenkonzerten, Einkäufen für die Nachbarn, Kochen und Basteln mit der Familie, Wutausbrüchen beim Homeschooling und Multitasking, viel zu viel Wein, mit den Gefühlen allein.
Radikale Kunst
Musik, immerhin, kann - im Autokino! - Gefühle zusammenbringen, die gerade nicht wissen, wohin. Peter Brings hat auf der Bühne mehrfach Tränen in den Augen. „Ich würde eigentlich am liebsten heulen, wir wollen uns anfassen, uns küssen, der Mensch ist nicht dafür gemacht, auf Distanz miteinander zu sein“, sagt er in Richtung der Autos. Zurück kommt kein Applaus, er hört nur Hupen, sieht Lichthupen und Klopapierfahnen.
Aber er ahnt: Für viele der Menschen, die mit der Musik der Band ohnehin ein Stück Identität verbinden, ist dieses Konzert etwas sehr Besonderes. Schmerzlich zurückgeworden auf sich, feiern sie das, was von ihrem Leben gerade übrig ist. Viel weniger als sonst ist das, aber gleichzeitig viel mehr, wie die Essenz aus allem, was sonst wie selbstverständlich da ist, ein Konzentrat, das manchmal bitter schmeckt und manchmal süß und oft viel zu intensiv.
Das Autokino ist ein Anachronismus aus der Zeit des Wirtschaftswunders. Ein Rockkonzert im Autokino, das stellt man sich vor wie Sex ohne Anfassen, wie Essen ohne Geschmack. In einer Zeit der entzauberten Zivilisation ist es aber genau das Gegenteil: Es ist intensiv, emotional, traurig und so radikal, wie Kunst nur sein kann.