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Von den Familien abgeschottetSo erleben Kölner Senioren im Altenheim die Corona-Krise

Lesezeit 8 Minuten
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Rosemarie Kuske lebt im Marie-Juchacz Seniorenheim in Köln-Chorweiler

  1. 60 Menschen in Köln sind bisher an den Folgen des Coronavirus gestorben (Stand 16. April). Der Großteil dieser Menschen war alt, zählte zur Risikogruppe.
  2. Im Marie-Juchacz-Altenzentrum in Chorweiler gibt es deswegen ein striktes Besuchsverbot. Das ist für die Bewohner und ihre Angehörigen oft nur schwer zu ertragen.
  3. Wie fühlen sich die Senioren? Wie gehen Sie mit der Situation um? Und wie hat sich ihr Leben in der Krise verändert? Ein Ortsbesuch.

Köln – Eine Frau im Rollstuhl verlässt mit einer Betreuerin das Marie-Juchacz-Altenzentrum, in der Gartenanlage gehen alte Menschen spazieren. Heimleiter Philip Esser trägt in seinem Büro keinen Mundschutz. „Kaffee trinken dürfen wir hier noch ganz normal“, sagt der 32-Jährige, und bittet, Platz zu nehmen. Wie in jedem Seniorenheim gibt es in Chorweiler striktes Besuchsverbot, warnen Schilder vor Covid-19, stehen Desinfektionsspender am Eingang. Esser hat die Zeitung trotzdem zu einem kurzen Besuch eingeladen – um zu zeigen, dass es jenseits der Katastrophenmeldungen über Covid-19-Ausbrüche noch Optimismus und so etwas wie Normalität in Senioreneinrichtungen gibt.

Esser ist ein sportlicher Typ, der in seiner Freizeit Motocrossrennen und Mountainbike fährt, gelernter Pfleger, seit Corona Krisenmanager mit der Verantwortung über 330 Bewohner und 415 Mitarbeiter.

Altenheim Esser

Er wolle „so viel Normalität wie möglich“, sagt er, überlegt einen Moment, und fährt fort: „Die Welt hat sich natürlich auch für uns in den vergangenen Wochen um 180 Grad gedreht. Vorher ging es um Pflege- und Lebensqualität unserer Bewohner, inzwischen geht es vor allem um Infektionsschutz und Depressionsprophylaxe. Um das Bekämpfen von Einsamkeit. Dazu kommt die ständige Sorge, dass wir nicht verschont bleiben von dem Virus.“

Keine Besuche, kein Bingo, keine Feste im Kölner Seniorenheim

Der Friseursalon ist geschlossen, der große Speisesaal und das Café auch, das Frühlingsfest fällt aus, Bingonachmittage, gemeinsames Singen, Basteln, Gartenarbeit auf dem Dach, Besuche von Schülern, Kindergartenkindern, Angehörigen – alles nicht mehr möglich. Der Vier-Jahreszeiten-Wohnbereich ist zur Isolierstation umfunktioniert worden, in der neue Bewohner für 14 Tage in Quarantäne gehen; und jederzeit Covid-19-Patienten untergebracht werden könnten.

Am Wochenende ist eine alte Frau gestorben. Bevor sie ging, atmete sie laut und fieberte, relativ normal, jetzt bedeutete das: Corona-Verdacht. Esser wurde um 6 Uhr morgens aus dem Bett geklingelt. Die Frau hatte einen Sohn und eine Tochter, beide wollten sich verabschieden. „Und für mich stellte sich die Frage: Wer darf? Solche Entscheidungen zu treffen, macht keinen Spaß“, sagt der Heimleiter. „Vor sechs Wochen war noch eine normale Sterbebegleitung möglich. Einige Bewohner werden in den letzten Stunden von der ganzen Familie besucht. Inzwischen dürfen nicht mehrere Menschen gleichzeitig kommen – Krankensalbungen lasse ich aber noch zu, es käme mir unmenschlich vor, es nicht zu tun.“

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Wie lässt sich in Zeiten, da die Welt darüber diskutiert, wie die Alten geschützt werden können, Meldungen von Toten in Pflegeheimen und Massengräbern mit alten Corona-Opfern fast normal werden, Normalität in einem Altenheim herstellen? „Es gibt sie schon noch. Das Leben geht hier wie überall draußen weiter. Wir stellen soziale Kontakte übers i-Pad her, Reha-, Krankengymnastik und Physiotherapie laufen weiter, wir gehen mit den Bewohnern spazieren, in Kleingruppen bis zu fünf Personen dürfen sich Bewohner weiterhin treffen“, sagt Esser. „Im Mittelpunkt der Berichterstattung steht das Drama. Das ist verständlich – allerdings führt es eben auch dazu, dass viele alte Menschen verunsichert sind und Angst haben. Dabei sehen viele hier die Lage nicht so dramatisch.“

Bewohnern ist Normalität sehr wichtig

Wenn er die Besucher bloß aufklären und fragen würde, wer weiterhin rausgehen wolle, „dann würden sich 90 Prozent der Bewohner hier melden“, glaubt Esser. „Mit dem Gedanken an den Tod haben sich hier alle schon befasst – und den meisten ist ein bisschen Normalität wichtiger als die größtmögliche Sicherheit.“ Zum Beispiel den Vergesslichen: Wie solle man Menschen, die dement sind, sich aber bei regelmäßigem Besuch an ihre Verwandten und Erlebnisse erinnern, erklären, warum niemand mehr kommen darf? „Das geht einfach nicht.“ Auch das Leid der Angehörigen ist riesig: Sie wissen, dass nur sie ihre Liebsten noch erreichen können – und dürfen nicht. Und die Pfleger sind mir ihren Masken für die Vergesslichen nicht zu erkennen. „Das ist eine schwere Einschränkung“, sagt Esser.

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Das Cafe Marie ist geschlossen

Es geht so vieles nicht: Gesichter sehen, zum Friseur gehen, Bingo spielen, zusammen essen und Kaffee trinken, Berührungen von Verwandten und Pflegern, Abschied nehmen, gemeinsam trauern. Und keiner weiß, wie lange das Selbstverständliche, Notwendige, Lebenswichtige nicht mehr gehen darf. Die Gänge des Altenzentrums, die Sitzgruppen, die Gemeinschaftsräume – leer. Präsent sind nur Putzfeen, die durch die Flure wandeln, um Türklinken, Tische und Stützgeländer desinfizieren.

Auch am Geburtstag bleibt die Familie lieber fern

Im Köln-Saal finden bis zu 500 Menschen Platz. Jetzt sitzen neben Philip Esser die Pflegeleiterin Ulrike Kulla, Pflegemanager Markus Schlagloth sowie die Bewohnerinnen Rosemarie Kuske, Ilse Wilbertz und Marlies Maehler im Kreis, alle, auch Reporter und Fotograf, tragen Mundschutz, der Sicherheitsabstand beträgt drei Meter, zu den Reportern sind es fünf.

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Bei dem Treffen mit unseren Kollegen vom Kölner Stadt-Anzeiger wurde ausreichend Abstand gehalten.

Rosemarie Kuske ist am Ostersonntag 83 geworden. Sie hatte eine Tafel für Freunde und Verwandte im Café Marie des Heims reserviert, auch Enkel und Urenkel hatten zugesagt. „Das ist schade, noch schwieriger ist es allerdings, meinen Mann bei Laune zu halten, den macht das Kontaktverbot sehr traurig.“

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Bewohnerin Rosemarie Kuske 

Ehemann Wolfgang wohnt im Betreuten Wohnen gegenüber, 62 Jahre sind die Kuskes verheiratet, getrennt waren sie fast nie. „Jetzt müssen wir draußen auf zwei getrennten Bänken sitzen, wenn wir uns sehen wollen – oder ich winke ihm vom Fenster zu, wenn er draußen ist.“ Um sich selbst sorge sie sich „eigentlich nicht“, sagt Rosemarie Kuske. „Wir werden hier gut betreut. Jeder gibt sich Mühe. Aber wir wissen halt nicht, was wird. Ob wir unsere Enkel und Urenkel nochmal in die Arme nehmen dürfen, zum Beispiel.“

Vergangenes Jahr an Ostern sei ihre Tochter auf der Intensivstation gewesen, erinnert sich Ilse Wilbertz. „Das war schlimm, sie ist Diabetikerin und hat fünf Kinder, da hatte ich echte Sorge um sie.“

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Bewohnerin Ilse Wilbertz

Ihr selbst, sagt sie, mache das Coronavirus keine Angst. „Meine Tochter war zum Glück noch da, bevor es losging, und hat mir die Haare geschnitten. Mein Gott, ich bin 82, was soll ich mir da noch Sorgen machen? Wenn ich dran bin, bin ich dran. Und solange genieße ich mein Leben.“ Die anderen lachen.

So stoisch wie Ilse Wilbertz kann Marlies Maehler dem Ausnahmezustand nicht begegnen. „Ich habe normalerweise sehr herzlichen Kontakt zu meiner 20 Minuten älteren Zwillingsschwester und zu meiner Nichte“, sagt die Frau mit den hübschen dunklen Augen, die bald 90 wird und im Rollstuhl sitzt.

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Bewohnerin Marlies Maehler

„Ich vermisse den Friseur und das Café Marie und die Fahrten in die Stadt. Vor allem aber den Besuch.“ Marlies Maehler lebt seit 26 Jahren im Marie-Juchacz-Zentrum. Lange hat die gelernte Schneiderin die Etiketten für das Personal eingenäht – inzwischen hilft die 89-Jährige, Mundschutz-Masken zu nähen.

Wie in fast allen Heimen ist der Vorrat knapp. „Natürlich überlegen wir immer, wo Masken wirklich Sinn machen, wie das Nutzen-Risiko-Verhältnis ist, ich halte wenig davon, dass jeder immer Mundschutz tragen muss“, sagt Esser. „Es geht immer vor allem darum, die Bewohner vor uns zu schützen.“ Längst gilt der Zwei-Meter-Abstand, gelten Schutzkleidung, Einmalhandschuhe und Mundschutz des Personals als normal. Dabei ist das bei Pflegerinnen und Pflegern, die auch zum Zuhören und Händchenhalten da sind, ein Widerspruch.

Seniorenheime in Köln bleiben abgeschottet

Normal ist jetzt, dass ständig der Krisenstab tagt. Normal ist, dass Verdachtsfälle auftauchen, dass Personal und Bewohner getestet werden, dass ein Teil der Verwaltung mit der Beschaffung von horrend teuren Schutzmaterialien beschäftigt ist und Bewohnerinnen wie Marlies Maehler helfen, den Notstand zu lindern, indem sie Masken nähen. Normal ist, dass Kinder bald wieder in die Schule sollen, aber nicht zu ihren Großeltern dürfen, weil die Heime abgeschottet bleiben (müssen).

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Normal geblieben ist, dass zu wenig Personal da ist, normaler geworden, dass jede und jeder immer abrufbereit ist. Auch wenn die Angestellten eigene Sorgen hat, wie Pflegeleiterin Kulla, die eine 86-jährige Mutter hat, deren Herzklappen-OP auf unbestimmte Zeit verschoben ist. Nie normal werden Kontaktverbot und Vermummungsgebot.

„Das einzig Gute, was man der Krise abgewinnen kann, ist wohl, dass sich bei der Finanzierung der Pflege bald etwas ändern wird“, sagt Markus Schlagloth. Er überlegt einen Moment, bevor er sagt: „Ändern muss, natürlich.“

Rosemarie Kuske ruft ihren Mann vom Köln-Saal aus an, um ihn draußen, auf getrennten Bänken, für ein Gespräch mit den Journalisten zu gewinnen. „Komm, hab‘ dich nicht so Wolfgang, die beißen doch nicht“, sagt sie, doch Wolfgang will nicht. „Der kriegt gleich bestimmt was zu hören“, sagt Philip Esser. „Manchmal verstehe ich meinen Mann nicht“, sagt Kuske belustigt.Durch die leeren Gänge des Heims geht Rosemarie Kuske später in einem Bogen vorbei an einer Reinigungskraft, die Geländer desinfiziert, und gelangt zu dem Fenster, an dem sie mehrmals am Tag steht, um ihrem Mann zu winken. „Besser winken als nichts“, sagt sie. Als sei das normal.