Im Oktober hat Johannes Grasser den Zuckerhut bestiegen. In seiner Biografie nimmt er kein Blatt vor den Mund. Er schreibt über seine Sport-Projekte mit Behinderung, aber auch Feiern, Sex und den Tiefpunkt seines Lebens.
Kölner schreibt Buch über Leben mit Behinderung„Sex mit einem Tetraspastiker läuft anders ab“
Nach zehneinhalb Stunden und 220 Klettermetern hatte er es endlich geschafft, erzählt Johannes Grasser im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Der 33-Jährige hat Ende Oktober den Gipfel des Zuckerhutes in Brasilien erreicht.
Was für geübte Kletterer vielleicht nach einer schlechten Zeit klingt, war für den Kölner das wohl größte Sport-Projekt, das er je durchgezogen hat – denn Grasser ist mit einer Tetraspastik geboren. Bei dieser Behinderung stehen seine Muskeln unter einer zu hohen Spannung, seine Arme und Beine kann er deshalb nur schwer bewegen.
Starke körperliche Leistung für den Tetraspastiker
Trotzdem ist Grasser ein Extremsportler und überlegt sich immer wieder neue Projekte. 2019 kam ihm die Idee mit dem Zuckerhut, seitdem trainierte der 33-Jährige mit einem dreiköpfigen Team bis zu 40 Stunden in der Woche.
Den brasilianischen Berg tatsächlich selbst geklettert ist Grasser aber nicht, sagt er. Da will er ehrlich sein. Es sei eher ein Hochziehen gewesen. Sein Team habe ihm dabei geholfen. „Johnny hat aber auch eigene Kraft dazugegeben, zum Beispiel beim Setzen der Beine, das war eine krasse körperliche Leistung“, sagt Paul Lübke, Grassers Hilfskletterer.
Mit solchen Aktionen fällt Johannes Grasser auf. Nach außen wirkt er immer mutig und abenteuerlustig, niemals müde vom Leben. Trotz Lähmung studierte er Sport, nahm an Surf-Wettbewerben teil und hat jetzt eben einen Berg bezwungen.
Wie es ihm als Mensch mit Behinderung aber wirklich in den vergangenen 33 Jahren ergangen ist, hat er jetzt in einem Buch zusammengefasst. Nur die Besteigung des Zuckerhutes hat es zeitlich nicht mehr auf das Papier geschafft.
Kölner Extremsportler schreibt Biografie
Das Buch mit dem Titel „Mich bremst niemand aus“, das er gemeinsam mit dem Sportjournalisten Christoph Cöln geschrieben hat, ist eine Biografie. „Ich habe mit den Erinnerungen meiner Eltern meine Kindheit dargelegt.“
So beschreibt Grasser zum Beispiel, wie seine Familie mit dem Handicap umgegangen ist und „wie schwer es für meine Eltern war, weil sie am Anfang nicht wussten, wie ich mich entwickeln werde“, sagt Grasser.
Doch vor allem erzählt der Wahl-Kölner aus seiner eigenen Sicht und lässt dabei kein Thema aus. „Mein Ziel war, dass das Buch sehr ehrlich und authentisch wird. Also ich nehme auch kein Blatt vor den Mund.“ Und das macht er wirklich nicht.
So schreibt Grasser zum Beispiel: „Treffen die Menschen aber auf einen Behinderten, verschlägt es ihnen plötzlich die Sprache. Dann wissen sie nicht mehr, was sie sagen sollen, schauen peinlich berührt in die andere Richtung oder glotzen einen an, als wäre man ein Affe im Zoo.“ Oder: „Klar, der Sex mit einem Tetraspastiker läuft anders ab als mit jedem x-beliebigen Date auf Tinder.“
Mit solchen Sätzen will der 33-Jährige mit herrschenden Vorurteilen aufräumen und spricht vermeintliche Tabu-Themen der Gesellschaft deshalb offen an. „Mir war es wichtig, Sex, Feiern und Intelligenz mit Behinderung zu thematisieren. Ich habe da kein Problem mit, aber es wird sich nie etwas ändern, wenn man es nicht kommuniziert“, sagt Grasser.
Und deswegen findet auch Inklusion einen Platz in seinem Buch, mit einer sehr kontroversen Aussage des 33-Jährigen: „Ich habe geschrieben, dass die Behinderten in Deutschland auch mit Schuld daran sind, dass Inklusion nach wie vor nicht funktioniert“, sagt Grasser.
Kritik an fehlender Inklusion im Kölner Karneval
„Sobald jemand nett zu uns ist, fühlen wir uns auf den Schlips getreten“, sagt Grasser. Viele Menschen mit Behinderung würden dann auch mal unfreundlich antworten, aber „keiner kann erwarten, normal behandelt zu werden, wenn man es selbst nicht tut.“
Trotzdem findet man im Buch vor allem viele Beispiele, die ihn als Mensch mit Behinderung nicht inkludieren. Kritik übt er auch am Kölner Karneval aus: „Kündet es in kölschen Karnevalsliedern noch so oft von Toleranz, Schrankenlosigkeit und unterschiedslosem Miteinander. Erst kürzlich stand ich Rosenmontag wieder vor verschlossener Tür. Während alle anderen fröhlich feierten, musste ich draußen bleiben.“ Es sei zu gefährlich für ihn.
Johannes Grasser schreibt im Buch über seine Suizidgedanken
Wie persönlich das Buch des 33-Jährigen wirklich ist, merkt man erst, wenn man bei Kapitel 23 angekommen ist und Johannes Grasser über seine Suizidgedanken schreibt. Der Kölner schreibt zunächst über seinen Sprung vom 7,5-Meter-Turm ins Wasser, wie neu geboren, fühle er sich.
Dann erzählt er aber, dass er schon von ganz anderen Sprüngen geträumt habe, „die mich von meinem behinderten Körper befreien und mir die Enttäuschung nähmen, von der Gesellschaft trotz aller Bemühungen nicht angenommen zu werden. Endgültig.“
Dieser Tiefpunkt seines Lebens war im Jahr 2017, sagt Johannes Grasser. Und gerade weil es die schlimmste Zeit für ihn war, war es ihm wichtig, auch diesen Teil zu erzählen. „Der Tiefpunkt ist letzten Endes auch der Grund dafür, dass es heute anders und besser läuft, weil ich es geschafft habe, mich herauszuarbeiten.“
„Mich bremst niemand - Wie ich trotz Behinderung ein Leben voller Sport und Abenteuer führe“, Johannes Grasser & Christoph Cöln, Riva Verlag, 240 Seiten, 16 Euro