Missbrauchsfälle in evangelischer Kirche„Haben Tätern erstmal mehr geglaubt als Kindern“

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Eine Frau in schwarzem Oberteil und ein Mann in weißem Hemd vor einer Kirche

Stadtsuperintendent Bernhard Seiger und Miriam Haseleu, Pfarrerin und Assessorin im Kirchenkreis Köln-Mitte

Der Kölner Stadtsuperintendant Bernhard Seiger spricht über eine Studie zu Missbrauchsfällen in der evangelischen Kirche und Konsequenzen.

„Wir haben uns für die liberalere und lockere Kirche gehalten und sehen jetzt, dass das Böse auch darin Platz greifen konnte“, sagte Stadtsuperintendent Bernhard Seiger am Dienstag beim Sommergespräch mit Journalisten. Seine Worte waren auf die im Januar veröffentlichte Forum-Studie zum sexuellen Missbrauch in der Evangelischen Kirche gemünzt. Danach wurden seit 1946 deutschlandweit mindestens 2225 Menschen missbraucht; die Zahl der Beschuldigten ist mit 1259 beziffert. Allerdings zeige die Studie den beteiligten Wissenschaftler zufolge nur „die Spitze der Spitze des Eisbergs“.

Erkenntnisse daraus aufgreifend, sagte Seiger, wegen der mangelnden Transparenz der „Machtstrukturen“ in der evangelischen Kirche sei „oft nicht klar, wer wofür verantwortlich ist. Geteilte Verantwortung gilt als evangelisch und fortschrittlich, aber genau das kann zu ungeregelten Grauzonen führen“. Zugleich habe sich als Faktor, der den Missbrauch begünstigt habe, herausgestellt, dass „Personen, die mit dem geistlichen Amt verbunden sind, auch in unsere Kirche einen hohen Vertrauensschutz genossen haben“. Mit der Folge, dass den Tätern „erst mal mehr geglaubt“ worden sei als betroffenen Kindern und Jugendlichen.

Täter wurde mehr geglaubt als Opfern

Zahlen zu Beschuldigten und Betroffenen im Evangelischen Kirchenkreis Köln und Region mochte Seiger nicht nennen. Es sei zu früh dafür, denn Angaben unterschiedlicher Stellen müsste miteinander abgeglichen werden. Die Landeskirche, wo die Pfarrakten liegen, und der Kirchenkreis, der über Dokumente zu andereren Berufsgruppen wie Diakonen und Kantoren verfügt, hätten jeweils nur „Teilerkenntnisse“.

Es sei Aufgabe der Aufarbeitungskommission für die Region Rheinland, Westfalen und Lippe, gemeldete Fälle genauer zu untersuchen und einzustufen. Die Evangelische Kirche im Rheinland habe Verträge mit Staatsanwälten geschlossen, die in die Kirchenkreise kommen, Verdachtsmaterial sichten und die Ergebnisse an die Kommission weitergeben würden.

Keine Auskunft über Zahl der Missbrauchsfälle in Köln

Seiger: „Wir haben in allen Gemeinden mit Plakaten, in Gemeindebriefen und auf Homepages dazu aufgerufen, sich zu melden, wenn man von sexualisierter Gewalt und Übergriffen in der Vergangenheit weiß oder selber betroffen ist.“ Neue Fälle, die über die in der Studie erfassen hinausgehen, hätten sich bislang nicht ergeben. Allerdings würden sich viele Betroffene jetzt wieder melden, weil das Thema „so präsent“ sei. Der „Segen der Form-Studie“ sei, dass ihnen geglaubt werde.

Was die Austrittszahlen angeht, sind wir auf gleichbleibend schlimmem Niveau
Bernhard Seiger, Stadtsuperintendent

Für die Aufarbeitung durch die Kommission muss laut Seiger gelten: Gründlichkeit vor Geschwindigkeit. Die Betroffenen hätten wesentlich mitzubestimmen, wie es weitergehe. Aus einem Gespräch mit einer Frau zitierte der Stadtsuperintendent diese Sätze: „Ich war jahrelang das Opfer. Jetzt bin ich Betroffene. Und mit allem, was jetzt gut geht, erlange ich die Kontrolle über mein Leben wieder.“ Zur Aufarbeitung gehörten auch die präventiven Schutzkonzepte im Kirchenkreis, etwa Schulungen, verpflichtende Wiederholungen und der Einsatz eines Interventions- und Krisenteams.

Pfarrerin stellt sich gegen Vergebung der Täter

Was den theologischen Aspekt angeht, unterstrich Seiger, die Schuld müsse „ausgehalten“ und Scham und Schmerz dürften nicht „in einem Vergebungs- und Versöhnungsmechanismus aufgefangen“ werden. Ähnlich äußerte sich Miriam Haseleu, Pfarrerin und Assessorin in Kirchenkreis Köln-Mitte. Es sei „nicht tragbar“, dass Betroffene in ihren Gemeinden aufgefordert worden seien, sie sollten oder müssten den Tätern – selten sind es Täterinnen – vergeben. Unter anderem forderte sie zu fragen, wie patriarchal die evangelische Kirche noch sei, angefangen beim Bild Gottes als „Vater“, „Herr“ und „Allmächtiger“.

Darauf angesprochen, wie die Reaktionen auf die Forum-Studie in Köln ausfielen, sagte Seiger, so „schlimm“ das Ergebnis auch sei, das „große Donnerwetter“ sei ausgeblieben. Er habe keinen einzigen kritischen Brief bekommen. Ob in Gottesdiensten, auf Synoden oder in Fortbildungen – allenthalben sei das Problem thematisiert worden. „Was die Austrittszahlen angeht, sind wir auf gleichbleibend schlimmem Niveau.“ Sie lägen „ungefähr stabil“ bei drei Prozent.

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