Süßer die Chöre nie klingenWeihnachtssingen ist in Köln zu einer Bewegung geworden
Köln – „Fürchtet euch nicht. Tretet näher und nehmt euch ein Textheft aus dem Korb“, ruft Jan Tengeler. Der Frontmann der gleichnamigen Band „Fürchtet euch nicht“ versucht von der kleinen Bühne aus das Unmögliche: den ganzen Weihnachtsmarkt am Stadtgarten, auf dem sich Menschenmassen auf der Jagd nach Geschenken an Buden vorbeischieben und sich um die Glühweinstände drängen, zum Singen zu bringen; aus dem Kommerz fast beiläufig kollektiv in die Innerlichkeit und den Augenblick zu schalten. Und das nicht durch das Anstimmen von Karnevalsliedern – was ja keine Kunst wäre – sondern von traditionellen Advents- und Weihnachtsliedern.
Zögernd kommen die Menschen näher an die kleine Bühne, wo „Oh Tannenbaum“ zu den jazzigen Klängen von Kontrabass, Xylophon und Trompeten als Eisbrecher funktioniert. Von Lied zu Lied greifen immer mehr Menschen zu den Textheften, bis rund um die Bühne ein ausgelassen-rhythmisches „Feliz Navidad“ erklingt. Tengeler und seiner Band gelingt es sogar, für sein Lieblingsweihnachtslied „Maria durch ein Dornwald ging“ zu werben. „Wer es noch nicht kennt, muss es unbedingt kennenlernen“, ruft er über den Markt. Ähnlich mühelos gelingt es ihm in diesen Tagen in der Ehrenfelder Kneipe „Wicleff“, die Gäste mit Kölschglas vor der Nase das Kirchenlied „Es kommt ein Schiff geladen“ anstimmen zu lassen.
Altbackenen Beigeschmack
Noch vor einigen Jahren hatte das Singen von Advents- und Weihnachtsliedern einen eher spießigen, altbackenen Beigeschmack. Nur ein Fünftel bekannte sich dazu, sie auch wirklich zu singen. Und heute? „Die Leute singen übers Jahr zu wenig und sehnen sich nach Gelegenheiten, die auch außerhalb von Karneval eine Einladung dazu bieten“, meint der Kölner Chorleiter und Musiklehrer Andreas Biertz.
Auf Weihnachtsmärkten und Veedelsplätzen trifft man sich zum spontanen Weihnachtsliedersingen, dank Smartphone haben alle die Texte zur Hand. Die Gelegenheiten werden jedes Jahr zahlreicher. Die Karten für „Loss mer Weihnachtslieder singe“ sichern sich die Menschen schon im Oktober, um sich am Tag vor Heiligabend mit 50.000 anderen Kehlen und kölschen Bands mit „Stille Nacht“ in Feiertagsstimmung zu singen. Weil die Nachfrage so immens hoch war, wurde die Veranstaltung in diesem Jahr gar um vier weitere Großveranstaltungen auf der Rennbahn in Weidenpesch und in der BayArena erweitert.
„Es ist die Sehnsucht, die die Menschen treibt“, vermutet Biertz. Die Sehnsucht, die die alten Advents- und Weihnachtslieder transportieren – und das Gefühl der Geborgenheit und des Vertrauten, das sie auslösen. Weihnachtslieder rühren auch Atheisten, beschreiben eine interkulturelle, überzeitliche Sehnsucht nach Geborgenheit und Heimat.
Stimmungsvolle Berieselung
Die Kirchen werden das Jahr über immer leerer – an Weihnachten werden viele von ihnen immer voller. Dabei geht es denen, die kommen, nach Einschätzung von Biertz nicht um stimmungsvolle Berieselung. „Es werden nämlich genau die Kirchen immer voller, in denen besonders viel gesungen wird. Viele Kölner gehen vor allem zum Singen in die Kirche“, meint er.
So platzt etwa die Ehrenfelder Kirche Sankt Anna aus allen Nähten, wenn beim Mitmachgottesdienst am Heiligen Abend Hunderte Hobby-Instrumentalisten mit ihren Instrumenten kommen und das Spontan-Orchester „Tochter Zion“ anstimmt, das dann aus 1000 Kehlen begleitet wird. Jedes Jahr werden es mehr Sänger, von denen mancher anschließend nach anderthalb Stunden Gesang mit Freunden und einem Glas Sekt auf dem Kirchplatz verweilt – mit dem irgendwie undefinierbaren Hochgefühl, dass jetzt wirklich von innen Weihnachten geworden ist.
Weihnachtssingen, Adventssingen – warum wird so etwas wie das Singen plötzlich zu einer Bewegung?
Weihnachtssingen, Adventssingen – warum wird so etwas wie das Singen plötzlich zu einer Bewegung? „Das ist kein Zufall, dass das gerade jetzt passiert“, zeigt sich die Philosophin und Stimmtrainerin Bettina Hesse überzeugt. Die Kölnerin hat pünktlich vor der Adventszeit das Buch „Die Philosophie des Singens“ herausgegeben, in dem 21 Autoren sich aus vielfältigen Blickrichtungen dem Phänomen der Stimme und des Gesangs nähern, und die philosophischen, poetischen und praktischen Aspekte beleuchten. Genauso wie es kein Zufall ist, dass sich Hesse vor Medienanfragen zum Thema nicht retten kann, weil sie scheinbar einen Nerv getroffen hat. „In Zeiten großer Umbrüche und wegbrechender Verbindlichkeiten, in denen wir ja zweifellos stehen – man denke nur an Klimawandel und Digitalisierung – gibt es eine Art Rückbesinnung auf das, was uns wesentlich macht“, erklärt sie.
Etwas Wesentliches, das sei der Wunsch, sich zu verbinden mit anderen. Beim Singen synchronisiert man sich mit anderen und fühlt sich als Teil von etwas Größeren. Gerade wenn Dinge nicht mehr sicher scheinen, täten Momente gut, wo wir eine Verbindung mit anderen eingehen. Und gleichzeitig ganz im Augenblick sind. „Gesang ist Dasein“ – diesen Satz von Rainer Maria Rilke hat sie ihrem Buch wie ein Motto vorangestellt. Weihnachten funktioniert das besonders gut.
Aber das Singen ist nicht nur die Verbindung mit anderen. „Beim Singen komme ich auch in Resonanz mit mir selbst. Und zwar körperlich und seelisch gleichzeitig. Beim Singen bin ich existenziell mit meinem Atem verbunden.“ Innerlich harmonisierend wirke das. Ein Effekt, den die Hirnforschung nachgewiesen hat: Singen setzt im Hirn die Glückshormone Oxytocin und Dopamin frei. Oxytocin hat einen stresslösenden Effekt und ist wirksam gegen Ängstlichkeit.
Dabei ist es freilich eine Sache, sich beim spontanen Singen auf den Nachbarn einzustellen. Die hohe Schule ist es, als ganzer Chor ein einziger Klang zu werden. Wenn der Domchor mit seinen glockenklaren hellen Knabenstimmen eben jenes „Maria durch ein Dornwald ging“ anstimmt, dann sieht man den ein oder anderen Zuhörer unvermittelt das Taschentuch zücken. Felix Schmeing (11) singt im Domchor. Hochkonzentriert steht er mit seinen Freunden auf der Bühne und übt für den Auftritt am Heiligen Abend in der Philharmonie. Dreimal die Woche probt Felix mit dem Domchor anderthalb Stunden. „Andere gehen drei Mal die Woche zum Fußballtraining, ich gehe singen. Das ist wie eine Sucht“, sagt der kesse Junge. „Nach einer guten Probe habe ich richtig Energie und fühle mich ganz leicht. Es ist wie ein Eimer voller Sorgen, aus dem es tropft. Am Ende der Probe ist der Eimer immer leer.“
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Von solch filigraner Meisterschaft des Domchors sind die Grüngürtelrosen noch weit entfernt. Kölns kultigster und jüngster Männerchor lockt mit eher robusten Tönen auf den Weihnachtsmarkt an der Lutherkirche, um mit 80 Mann auf der Bühne sein neues Weihnachts-Medley zum besten zu geben. Die Fans des Kneipenchores stürmen den Weihnachtsmarkt so zahlreich, dass die Zugänge geschlossen werden müssen. „Die Jungs hatten richtig Bock auf Weihnachtslieder“, sagt Chorleiter Constantin Gold.
Den Chor, der erst im Februar diesen Jahres ganz spontan in der Kölschbar gegründet worden ist, nennt Gold grinsend „Männerchor 2.0 mit Sex-Appeal“; und er ist der lebendige Beweis, dass die Singbewegung das Image von Chören entstaubt hat: „Wenn Ambiente und Sound stimmen, kommen sogar die Männer.“ Vom Türsteher bis zum Anwalt, und in diesem Fall sogar viel zu viele: Längst musste ein Aufnahmestopp verhängt werden, 100 Männer harren auf der Warteliste aus, und Woche für Woche kommen weitere Interessenten hinzu. Nicht einmal ein Jahr nach ihrem Gründung sind die Grüngürtelrosen an diesem Montag im Stadion bei „Loss mer Weihnachtslieder singe“ dabei.
„An der Seite von der kölschen Mutter aller Bands“, verrät Gründungsmitglied Dennis Busch (36) und freut sich auf „Gänsehautmomente“. Ob er sich in diesem Jahr trauen wird, daheim im Kreise seiner Lieben auch mal unter dem Baum zu singen, weiß er noch nicht. „Im Rudel ist das deutlich einfacher.“