„Er ist doch ein guter Junge“Wenn Kinder sexuelle Übergriffe begehen
- Auch Kinder und Jugendliche begehen sexuelle Übergriffe. Die Gesellschaft möchte das oft nicht wahrhaben.
- Therapeuten der Beratungsstelle Punktum zeigen jungen Tätern Wege in ein Leben ohne sexualisierte Gewalt.
- 270 Beratungen fanden dort im vergangenen Jahr statt, so viele wie noch nie. Der jüngste Klient ist gerade mal 10 Jahre alt. Wie kann man umgehen mit solchen Fällen? Was machen die Übergriffe mit den Eltern der Täter?
Köln – Ben ist 14 Jahre alt, als er sexuell übergriffig wird. Er vergeht sich an seinem Neffen Leon. Der Sechsjährige war häufig zu Besuch, schläft oft dort. Ben muss sich meist um ihn kümmern, worauf er wenig Lust hat. Irgendwann fängt Ben an, Leon zu streicheln. Der kleine Junge lässt es geschehen, er schaut auf zum großen Ben und will ihm gefallen. Als Leon wieder einmal bei Ben schläft, verschließt der 14-Jährige die Zimmertür. Dann penetriert er Leon anal.
Dass nicht nur Erwachsene sexuelle Straftaten begehen, sondern auch Kinder und Jugendliche, ist etwas „das die Gesellschaft oft nicht wahrhaben will“, sagt Igor Godec. Er ist Sozialarbeiter und Therapeut bei Punktum in Mülheim, einer Einrichtung des Caritasverbands Rheinisch-Bergischer-Kreis. Die Stelle beschäftigt sich mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen zehn und 21 Jahren, die sexuell übergriffig wurden.
Das macht sie nun bereits seit 20 Jahren, 1999 startete die Einrichtung als eine der ersten in Deutschland. Sie ist eine der einzigen ihrer Art weit und breit. Junge Menschen aus Nordrhein-Westfalen und teilweise Rheinland-Pfalz kommen zu Punktum – freiwillig, oder weil sie etwa ein Jugendamt oder ein Gericht nach einem Sexualdelikt als Bewährungsauflage dorthin geschickt hat.
Fassungslose Eltern
Ben kam freiwillig. Besser gesagt, seine Familie, die von dem Übergriff erfuhr, als sich Leon offenbarte. Bens Eltern konnten die Tat nicht fassen: „Er ist doch ein guter Junge.“ Nach einem Erstgespräch folgte eine etwa dreimonatige „Diagnostikphase“, in der die sozialen Hintergründe, die psychologische Verfassung, die Fantasien und Ängste Bens erörtert wurden – als erster Schritt einer Rückfallvorbeugung. Daran schloss sich eine rund eineinhalbjährige „Behandlungsphase“ an: In regelmäßigen Einzelgesprächen oder Runden mit anderen Kindern und Jugendlichen, die sexuelle Grenzen überschritten haben, werden Tatszenarien rekonstruiert, Verantwortungsübernahme und Empathie trainiert, soziale Kompetenzen und Selbstständigkeit aufgebaut. „Die meisten Täter haben Gewalterfahrung oder Mobbing und Vernachlässigung zum Beispiel durch die Eltern erlebt“, sagt Godec.
So war es auch bei Ben. Zunächst tat er das, was viele Übergriffige machen. Er spielte den Vorfall herunter. „Die Jugendlichen schämen sich sehr für ihre Tat“, deshalb blockieren sie, sagt Godec. Doch dann öffnete er sich. Ben war selbst Opfer sexueller Gewalt. Der ältere Bruder eines Freunds hatte versucht, ihn zu vergewaltigen. Ben hat dieses einschneidende Erlebnis mit seinem kleinen Neffen schließlich reinszeniert. Aber auch Ohnmachtserfahrungen und Unterdrückungserlebnisse ohne sexuellen Hintergrund können Ursache sein für derartige Übergriffe. Der Wunsch, endlich einmal selbst Macht auszuüben, sei bei den Tätern meist die Motivation. Deshalb seien die Opfer in der Regel jünger, weil der Täter sie durch seine körperliche und oft geistige Überlegenheit leichter beherrschen kann.
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Es kommen immer mehr junge Menschen zu Punktum. 270 Beratungen fanden dort im vergangenen Jahr statt, so viele wie noch nie. 67 davon gingen schließlich in die Behandlungsphase. Die meisten Täter sind im Alter zwischen zwölf und 18 Jahren, der derzeit jüngste Klient bei Punktum ist zehn.
Öffentlichkeit hilft
Jugendämter und Eltern sind inzwischen sensibilisierter. „Die Leute haben inzwischen ein besseres Empfinden, was eine sexuelle Übergriffigkeit sein kann“, weiß Godec. Auch öffentlich gewordene Fälle helfen, das Thema zu enttabuisieren. Die Missbrauchsfälle von Lügde zum Beispiel oder jene in einer Kita in Bickendorf, in der im vergangenen Jahr wiederholt Kinder andere Kinder misshandelten. Inzwischen schult Punktum auch Jugendamtsmitarbeiter der Stadt darin, einen sexuellen Übergriff besser zu erkennen und einzuordnen. „In jeder sozialen Schicht werden sexuelle Übergriffe begangen“, berichtet Godec. Aber in sozial schwierigeren Schichten kämen Fälle eher ans Tageslicht, weil mehr Kontrolle etwa durch Jugendämter gegeben sei. „In der Mittel- und Oberschicht wird eher vertuscht“, vermutet der Therapeut.
Rund zweijährige Behandlung
Die Punktum-Mitarbeiter müssen sich häufig für ihre Arbeit rechtfertigen, sagen sie. „Helft lieber den Opfern, nicht den Tätern“, heißt es dann. Aber: „Täterarbeit ist Opferschutz“, lautet ein Erklärungsmantra der Einrichtung.
Und in der Tat: Erst während der Arbeit mit dem 14-jährigen Ben kam dessen eigene Opfergeschichte ans Tageslicht, die nun ebenfalls aufgearbeitet wird. „Gelingt das, sinkt das Risiko, dass der Jugendliche erneut übergriffig wird, signifikant“, weiß Godec. Zudem werden die Opfer der Übergriffe sofort an entsprechende Beratungsstellen vermittelt.
Überregionale Beratungsstelle
Punktum ist eine überregionale Beratungsstelle des Caritasverbands für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene von zehn bis 21 Jahren, die sexuelle Grenzen überschritten haben. Als eine der ersten Einrichtungen dieser Art in Deutschland überhaupt startete Punktum 1999 und ging aus der Jugendhilfe in Bergisch Gladbach hervor. Das Team besteht derzeit aus sieben Mitarbeitern – Therapeuten, Psychologen, Pädagogen. Neben der ambulanten Tätertherapie, um Rückfälle zu verhindern, beraten sie betroffene Familien und andere Jugendeinrichtungen über sexuellen Missbrauch durch Kinder und den Umgang damit. Die Einrichtung sitzt am Clevischen Ring in Mülheim und ist erreichbar unter der Telefonnummer 0221/16861012. (og)
Die insgesamt rund zweijährige Behandlung fordert Tätern und deren Familien alles ab. Nicht jeder hält dem stand, etwa ein Viertel der jungen Leute schafft die auf Gesprächstherapie ausgerichtete Behandlung nicht. „Wenn der äußere Druck nicht da ist, etwa vom Jugendamt oder den Eltern, dann ist die Abbruchwahrscheinlichkeit hoch“, sagt Giuseppe Catania, der Leiter von Punktum. Diese Fälle werden dann in ihre Familien entlassen oder in eine stationäre Einrichtung verwiesen.
Der 14-jährige Ben hat es geschafft. Nach mehr als zwei Jahren intensiver Behandlung fand das sogenannte „Verantwortungsübernahmegespräch“ statt. Leon, der bei einer Opferberatungsstelle Hilfe fand, hatte dem Treffen zugestimmt. Godec begleitete Ben. „Warum ich?“, fragte Leon seinen Cousin. „Ich habe dich ausgenutzt“, entgegnete Ben – ein Schuldeingeständnis und eine Erklärung gegenüber dem Opfer. „Die Täter müssen erkennen, dass sie eine sexuelle Grenzverletzung begangen haben und die Tat auch zugeben“, formuliert Godec das Ziel. Nur so hätten die jungen Menschen eine Chance, einmal ein legales Sexualleben zu haben. Und nicht mehr rückfällig zu werden.