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Sexuelle Übergriffe in Kölner Kita„Kinder werden zu kleinen Tätern stilisiert”

Lesezeit 4 Minuten
Kita Köln no name

Grablichter stehen auf den Fensterbänken der Kita.

  1. Wie handeln, wenn es in einer Kita zu sexuellen Grenzüberschreitungen von Kindern an anderen Kindern kommt?
  2. Pädagoge Jörg Nitschke ist Dozent am Institut für Sexualpädagogik in Koblenz und ist in Krisensituationen schon oft hinzugezogen worden.
  3. Ein Gespräch über physische Zusammenbrüche, Helikopter-Eltern und die Problematik, schon kleine Kinder zu Tätern zu stilisieren.

KölnIm Montessori-Kinderhaus in Bocklemünd ist es vor wenigen Wochen zu sexuellen Grenzüberschreitungen von Kindern an anderen Kindern. In der Folge eskalierte ein Streit zwischen Eltern, Erzieherinnen und Träger. Wie können Zerwürfnisse in solchen Situationen verhindert werden?

Wenn es zu solchen Grenzverletzungen kommt, die es an vielen Kitas gibt, sollte möglichst schnell eine Vermittlung von außen eingeschaltet werden. Sonst besteht die Gefahr, dass Eltern und das Kita-Team sich gegenseitig Fehlverhalten vorwerfen – das kann bis zu psychischen Zusammenbrüchen, Kündigungen und Schließungen der Kita führen. Noch wichtiger ist natürlich eine Aufklärung und Verortung im Vorfeld.

Das heißt im Umkehrschluss: Die Verunsicherung ist groß, wenn es um kindliche Sexualität geht?

Definitiv. Ich bin noch nie gerufen worden, wenn ein Kind einem anderen Kind einen Legostein in die Nase gesteckt hat. Bei Vagina und/oder Anus sieht das anders aus, da eskaliert die Situation nicht selten. Dabei ist das Thema aus kindlicher Perspektive dasselbe: nichts in Körperöffnungen stecken.

Jörg Nitschke

Die Sexualisierung geschieht erst durch die Betrachtung der Erwachsenen?

Die Brille der Eltern macht eine Grenzverletzung oft erst zum Pulverfass. Erinnern sie sich um den vermeintlichen Skandal an der Kita in Mainz im Jahr 2015? Eine Erzieherin konnte in der Folge nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten. Dabei stellten sich die Vorwürfe der Eltern in diesem Fall als unbegründet heraus. Aber wie gesagt: Man muss sich den Einzelfall anschauen.

Bräuchte jede Kita ein sexualpädagogisches Konzept, samt Elternabenden, auf denen über kindliche Sexualität aufgeklärt wird?

Alle Bundesländer haben das Thema inzwischen in ihre Kita-Leitlinien aufgenommen, das ist ein großer Fortschritt. Elternabende, auf denen auch über kindliche Sexualität, Doktorspiele und Grenzüberschreitungen gesprochen wird, sind sicher hilfreich: Viele Eltern wissen über Selbstbefriedigung bei Kindern zum Beispiel wenig bis nichts. Als Kita da Position zu beziehen und aufzuklären, hilft.

Ist es nur ein Eindruck, dass die Verunsicherung eher zunimmt? Auch in meinem Bekanntenkreis gibt es Eltern, die zum Beispiel Männer als Erzieher grundsätzlich ablehnen.

Das ist ein großes Paradox: Einerseits ist es gut, dass die Gesellschaft für sexuelle Übergriffe und Missbrauch sensibilisiert ist: Angefangen mit der Berichterstattung über Missbrauch an der Odenwaldschule über „Me too“ bis zu der aktuellen Aufarbeitung Tausender Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche. Andererseits führt die Betonung des Themas in der Öffentlichkeit dazu, dass nicht wenige Menschen überall Täter und Opfer sehen. Und dass Männer, die in Kitas arbeiten, nicht selten unter Generalverdacht stehen. Auch hier helfen Aufklärung und klare Regeln – auch, um überbesorgten Helikopter-Eltern zu begegnen.

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Eine Statistik geht davon aus, dass sexuelle Übergriffe von Kindern an Kindern siebenmal häufiger auftreten als Missbrauch von Erwachsenen an Kindern. Wir haben Sie vergangene Woche versehentlich mit dieser Aussage zitiert – Sie sind allerdings der Meinung, dass solche Vergleiche unzulässig sind. Warum?

Zum einen werden Kinder durch solche Vergleiche massiv kriminalisiert. Kinder werden zu kleinen Tätern stilisiert, das ganze Vokabular aus dem Strafgesetzbuch kommt zur Anwendung. Bei Handlungen von Fünf- oder Sechsjährigen würde ich nie von Missbrauch sprechen, auch „sexueller Übergriff“ erscheint mir falsch, ich halte den Begriff der „sexuellen Grenzverletzung“ für geeigneter. Und die geschieht bei Kindern, die noch an den Grenzen lernen, eben häufiger. Doktorspiele sind unter Kindern sehr üblich, nicht alle machen das, aber doch viele. Die sollten auch nicht unterbunden werden, das gehört zu den wichtigen Sinneserfahrungen von Kindern. Das lässt sich übrigens in den Bildungsleitlinien der Bundesländer genauso nachlesen.

Also plädieren Sie für mehr Gelassenheit, die allerdings oft schwer fällt, wenn es um die körperliche Unversehrtheit der eigenen Kinder geht.

Wichtig ist, dass Kinder lernen, sich an Regeln zu halten wie zum Beispiel die Freiwilligkeit im Spiel. Eingegriffen werden muss, wenn sich in einer Gruppe Chefs herauskristallisieren, die andere Kinder nötigen. Wenn Kinder anderen Kindern Schaden zufügen, ist das nicht zu bagatellisieren – es ist jedoch immer im Einzelfall zu eruieren, was wirklich vorgefallen ist. Nur selten handelt es sich um eine traumatisch bedingte Reinszenierung – aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass die Befürchtungen der Eltern oft dazu führen, dass das Geschehene dramatisiert wird.

Spielt sich in den Köpfen der Erwachsenen und in den Whatsapp-Gruppen oft mehr ab, als wirklich passiert ist?

Ja, und zwar nur, wenn es um Sexualität geht: Wenn Luise Ben eine Schaukel an den Kopf knallt und Ben eine Platzwunde hat, findet sich am nächsten Tag kein Bericht auf „Spiegel Online“. Der Sozialforscher Martin Dornes kommt übrigens in seinem Buch „Die Modernisierung der Seele“ zu einem beruhigenden Befund, über den selten geschrieben wird: Nie ging es Kindern und Jugendlichen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs besser als heute.