Kölner Alkoholiker in der Corona-Krise„Ich bin sehr gut im Lügen und Vertuschen“
- Infolge der Corona-Maßnahmen fallen die Treffen der Anonymen Alkoholiker weg. Für viele trockene Alkoholiker ein schwerer Schlag.
- Alleine in Köln sind davon 70 Gruppen betroffen.
- Ein Betroffener schildert seine Leidenszeit.
Köln – Am Telefon klingt Dirk P. (Name geändert) abgeklärt. Er redet mit ruhiger Stimme, ist sortiert. Keine Anzeichen von Nervosität. Dabei bricht für den 57-Jährigen gerade eine Routine weg, die er sonst regelmäßig pflegt. Er ist trockener Alkoholiker und weil wegen des Coronavirus keine Gruppenveranstaltungen stattfinden dürfen, ist P. nun auf sich alleine angewiesen. Die Treffen der Anonymen Alkoholiker (AA) finden nicht statt. Alleine in Köln sind davon 70 Gruppen betroffen.
Es ist die Regelmäßigkeit, die die Meetings für Betroffene wie Dirk P. so wichtig macht. Es sei ein Fixpunkt in der Woche, sagt P. Das Treffen falle nie aus, nicht an Heiligabend, nicht an Silvester und nicht an Feiertagen „Aber es gibt jetzt zum ersten Mal dieses Virus-Thema. Das hatten wir bisher nicht“, sagt er.
Dirk P. trank schon früh
Dirk P. ist schon früh zum Alkohol gekommen. Er erinnert sich an eine Situation in der Grundschule. In der vierten Klasse zu Karneval habe sein Vater ihm zwei Flaschen Wein mitgegeben. „Die Kinder durften zu Karneval auch schon mal ein Gläschen Wein trinken. Und ich glaube, das hat die Lehrerin dann auch nicht mal untersagt.“ In seiner Jugend besucht P. ein Internat. Mit 16 Jahren darf er dort in eine Bar. Er beginnt, mit Freunden nach dem Sport Bier zu trinken. „Von da an war Alkohol bei mir immer ein wichtiges Thema, auch während des Studiums“, sagt er. In dieser Zeit geht es um gute Weine. In seiner Familie hatten sie schon immer gesagt, ein guter Wein sei etwas Leckeres. „Wein wurde bei uns in der Familie überhaupt nicht als Alkohol bewertet.“
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Der Wein lässt ihn nicht los. Er trinkt abends nach der Arbeit. Ein, zwei Flaschen. Diese extremen Ausfälle, von denen andere in den Meetings erzählten, habe er nie gehabt, sagt er. Vielmehr sei er ein „Spiegeltrinker“ gewesen. Das heißt, P. hat bis zu einem bestimmten Punkt getrunken und den Pegel dann aufrecht gehalten, um keine Entzugserscheinungen zu spüren.
Depressionen gehören auch dazu
Zur Sucht kommen Depressionen hinzu. Im April 2017 muss der heute 57-Jährige das erste Mal in eine Klinik, insgesamt verbringt er dort über zwei Jahre. „Ich weiß bis heute nicht, ob es eine Depression mit Alkoholkonsum war oder andersrum“, sagt er. Das Trinken wird immer schlimmer. Während der Zeit in der Klinik lernt der Kölner die Anonymen Alkoholiker kennen. Dennoch erleidet er noch einen Rückfall.
Seit zwei Jahren ist er trocken, wenngleich der Weg schwer war. „Ich bin sehr gut im Vertuschen, Verharmlosen, Lügen, Verstecken“, sagt P. Genauer geht er darauf nicht ein, doch er erinnert sich an eine Geschichte eines anderen Teilnehmers, „der seiner Frau gesagt hat, er trinkt nie mehr was“. Dann habe der Betroffene Flaschen im Garten vergraben bis oben zum Flaschenhals „und ist abends rausgegangen und hat sich mit einem Strohhalm einen gepichelt“. Da müsse man erst mal drauf kommen.
Sprecher der Anonymen Alkoholiker ist besorgt
Nur in die Augen gucken oder drei Finger heben. Nur eine Zahl sagen, sieben zum Beispiel. Dirk P. erzählt, wie er in den Treffen verstanden wird, ohne etwas sagen zu müssen. „Sieben bedeutet, heute hätte ich wieder Lust gehabt, einen Wein zu trinken. Das ist ein Automatismus.“ Jetzt, wenn die Meetings ausfallen, ist es nicht so, dass er nicht mehr weiß, was er tun soll. Unterstützung bekommt er von seiner Frau. „Ich kann mit meiner Frau reden, wenn ich denke, mir wird komisch.“ Sie sage dann, er solle mit dem Auto eine Runde um den Block fahren. „Aber diesen Anstoß zu bekommen, wenn man niemanden hat?“ In dieser Zeit als trockener Alkoholiker alleine leben zu müssen, müsse der Horror sein, sagt Dirk P.
Anlaufstellen
Wenn auch Sie Hilfe benötigen, oder jemanden kennen, der mit Suchtproblemen zu kämpfen hat, wenden Sie sich an eine der folgenden Anlaufstellen. Dort werden Sie Unterstützung finden:
Anonyme Alkoholiker Interessengemeinschaft e.V., Domstraße 58, 50668 Köln, ☎ 0221/312424, aa-koeln@anonyme-alkoholiker.de
Al-Anons (Angebot für Angehörige), ☎ 02203 / 64975, alfred.kempa@koeln.de
Blaues Kreuz Köln e.V., Piusstraße 101, 50823 Köln, ☎ 0221/527979, blaueskreuzkoeln@netcologne.de
Kölner Suchthilfe e.V., Am Dörnchesweg 30, 50259 Pulheim, ☎ 02234/6806291, info@koelnersuchthilfe.de
Martin L. (Name geändert) ist Sprecher der Anonymen Alkoholiker in Köln. Er ist besorgt darüber, dass die Treffen aussetzen: „Wenn ich sage, es geht unter dem Strich um Leben und Tod beim Alkoholiker, der wieder trinken muss, ist das für einen Nicht-Alkoholiker schwer zu verstehen“, sagt er. Die Sucht führe aber unweigerlich früher oder später in den Tod. Letztlich seien diese Meetings lebensrettend.
Nicht jeder ist wie Dirk P. seit Jahren dabei. Neue Mitglieder hätten kaum Telefonnummern von anderen Teilnehmern, sagt Martin L., sie könnten einander nicht mal eben anrufen. „Und wenn ich höre, dass in Zeiten einer Pandemie die Fälle häuslicher Gewalt steigen, dann hab ich im Hinterkopf, dass die Sucht da nicht weit ist.“ Es werden nicht wenige Fälle sein, in denen vermehrter Alkoholkonsum eine Rolle spiele. „Und wir können nicht helfen.“
Dirk P. sagt, er fände es angemessen, wenn die Stadt Köln Treffen ermöglichen würde, „auch unter Corona-Voraussetzungen“. Für die Meetings sei nur ein Raum nötig, es sei auch möglich, die Meetings im Stehen durchzuführen. Fast schon verzweifelt sagt er: „Die Leute können ja nirgendwo hin. Ich kann jetzt nirgendwo zu einem Meeting gehen. Nirgendwo.“ Früher sei das überall möglich gewesen. Von Hamburg bis München habe er Meetings finden können, aber jetzt: „Selbst wenn ich 100 Kilometer fahre, komme ich nicht dahin.“
Stadt Köln trifft Entscheidung
Die Entscheidung darüber, ob die Treffen stattfinden, obliegt der Stadt Köln – vom Gesundheitsamt kommt eine klare Ansage: „Wir unterstützen derzeit keine Gruppentreffen, da es ein stadtweites Kontaktverbot gibt, das zu ihrem eigenen Schutz selbstverständlich auch für die Anonymen Alkoholiker gilt.“ Die finanzielle Unterstützung aller Selbsthilfegruppen werde aufrechterhalten. Allerdings sei in allen Kontakt- und Beratungsstellen stadtweit eine Einschränkung des Angebotes erforderlich, um das Infektionsrisiko in Köln zu vermindern. Der Kontakt mit Besuchern müsse „überall drastisch reduziert werden“. Der längere Aufenthalt mehrerer Besucher gleichzeitig sei nicht mehr möglich. Einzelkontakte und -beratungen, vor allem bei Krisensituationen, seien jedoch weiterhin möglich unter Berücksichtigung der Hygiene-Maßnahmen, heißt es weiter.
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Online-Meetings könnten eine Alternative sein. Dirk P. betont: „Es muss ein neues Management her.“ Die Treffen online durchzuführen, habe im Vergleich zu Live-Meetings mit Masken sogar den Vorteil, dass die Mimik der Betroffenen sichtbar wäre. „Das könnte man auch ad hoc machen. Wenn man sagt, jetzt gehts mir gerade schlecht.“
Die Angst vor dem Lockdown
Doch neben den fehlenden Treffen hat P. noch ein ganz anderes Problem: die Angst vor dem Lockdown. Zu Meetings zu gehen, sei eine gute Basis, sagt er. Aber wenn bei ihm Überlegungen in Richtung Alkohol ausgelöst würden, müsse er rausgehen. „Mir würde es mehr helfen, wenn ich mich frei bewegen könnte“, sagt P. Der einzige Vorteil der aktuellen Lage sei, dass es schwieriger sei, an Alkohol zu kommen. „Es ist nicht das kleinste Fitzel hier. Das wäre dann eine Hürde“, sagt P. Das wirke wie „eine kleine Bremse“.
Sprecher Martin L. ist sich sicher, dass der entscheidende Schritt am Ende beim Betroffenen selbst liegt. „Der Alkoholiker, der trinken will, der trinkt sowieso“, sagt er. Allerdings sei es mit Meetings „vielleicht doch ein bisschen kontrollierter“. „Derjenige, der die Barriere jetzt fallen lässt über mehrere Wochen oder Monate im Homeoffice, für den ist es ganz schwer, wenn er Suchtstrukturen hat, da wieder zurückzurudern. Der hängt in der Scheiße drin.“