Der Radio-Moderator lädt am Sonntag zum Demokratie-Festival in Köln ein. Im Interview spricht er über verwahrloste Plätze, Meinungsfreiheit und die AfD.
Kölner Autor Jürgen Wiebicke„Wir dürfen uns nicht zu sehr auf die Feinde der Demokratie fixieren“
Ihr neues Buch heißt „Erste Hilfe für Demokratieretter“. Wenn Erste Hilfe geleistet werden muss, ist es meist ernst. Sehen Sie unsere Demokratie kurz vor dem Exitus?
Nein! Ich bin nicht pessimistisch – auch wenn die Lage wirklich ernst ist. Wir müssen aber die Fixierung im Kopf wegbekommen, immerzu nur auf die Feinde der Demokratie zu schauen und sich dadurch einschüchtern zu lassen. Stattdessen müssen wir neue Energien sammeln, neue Freunde gewinnen und zusammen entdecken, dass gemeinsames Handeln Kraft entwickelt. Erste Hilfe kann ja auch Selbstheilung möglich machen.
Trotzdem warnen Sie vor einer „Menschheits-Blamage“. Was meinen Sie damit?
Die Lebensform, die wir im Moment genießen dürfen, hat unseren Vorfahren viele Kämpfe gekostet. Es hat Jahrtausende gedauert, eine Lebensform zu finden, die Freiheit der Einzelnen möglich macht und gleichzeitig für möglichst gerechte Verhältnisse sorgt. Wir stehen auf den Schultern von Riesen. Was wir haben, ist uns in den Schoß gefallen, wir haben nichts dafür tun müssen. Das Errungene sollten wir nicht leichtfertig wieder aufgeben – das wäre die Blamage. Jetzt, wo es ernst wird, müssen wir uns die Frage stellen: Was ist mein persönlicher Beitrag dazu, dass auch künftig freiheitliche Verhältnisse herrschen können?
Ein mündiger und politischer Mensch zu sein, ist sehr anstrengend, schreiben Sie zu Recht. Und das Leben hält genug andere Mühen bereit. Warum lohnt es sich trotzdem?
Nur in der Demokratie haben wir die Möglichkeit, eine bestimmte Seite unserer Persönlichkeit zu entwickeln, die in anderen Gesellschaftsformen verkümmert. Wir können die Erfahrung machen, dass wir Teil des öffentlichen Raums sind und ihn mitgestalten. Wir können Teil eines gelingenden Ganzen sein. Aber dazu müssen wir uns ins Verhältnis setzen zu Menschen, die ganz anders sind als wir und die sehr anstrengend sein können. Solche Prozesse sind nur möglich in einer Gesellschaft, die Verschiedenheit aushält. Das müssen wir wieder lernen. Es gibt eine starke Neigung, sich nur noch mit Leuten zu umgeben, die die gleiche Lebensform und Meinung haben.
Die Demokratie wurde im Frühjahr auf vielen Demos „gegen rechts“ verteidigt. Den Begriff finden Sie schwierig. Warum?
Weil er sehr vieldeutig ist. Man muss genauer werden, wenn man die Grenze finden will, was in einer Demokratie nicht mehr hinzunehmen ist. Rechtsextrem, rechtsradikal: Das ist schon genauer. Wir müssen unterscheiden zwischen denen, die vielleicht nicht im Mainstream der Gesellschaft sind, die aber nicht zu den Feinden der Gesellschaft gehören, und denen, die unsere Gesellschaft zerstören wollen. Die persönliche Perspektive ist immer begrenzt. Ich muss akzeptieren, dass Menschen anders auf die Welt schauen als ich. Darum muss man wirklich gute Gründe haben, bestimmte Meinungen zu verbieten oder nicht mehr zuzulassen im demokratischen Konzert. Diese Beweispflicht haben wir immer.
Sie sehen die Demokratie nicht nur durch die AfD gefährdet, sondern auch dadurch, dass viele Menschen laut Studien Angst haben, ihre Meinung nicht mehr sagen zu dürfen.
Demokratien sind dann lebendig, wenn es eine gute Streitkultur gibt. Da sollte man nicht von vornherein aufpassen müssen, was man sagt. Gerade in der mündlichen Kommunikation sind wir oft unfertig, uns rutscht etwas raus. Da sollten wir uns nicht wechselseitig mit Misstrauen begegnen und jemanden sofort in den Senkel stellen, wenn mal eine Formulierung nicht sitzt. Wohlwollen ist wichtig und die mentale Grundlage dafür, dass wir uns aushalten können in unserer Verschiedenheit. Wenn das Meinungsklima enger und stickiger wird und Menschen Angst haben, bestimmte Dinge im Privaten und im Öffentlichen zu sagen, kann das zur Aggression führen, die man dann eben im Verborgenen rauslässt, etwa in der Wahlkabine.
Sagen darf man doch fast alles, nur muss man dann auch die Kritik daran aushalten. Oder stimmt das etwa nicht?
Absolut. Die Gegenrede ist sehr wichtig. Rede und Gegenrede sind aber darauf angewiesen, dass es ein gesellschaftliches Klima gibt, den Meinungsstreit mit zivilisierten Mitteln zu führen. Wenn die Gegenrede nicht das schärfste Argument bringt, sondern denjenigen von der Bühne fegen will, der etwas vermeintlich Anstößiges gesagt hat, ist die Grenze überschritten.
Am Sonntag wollen Sie Ihr Buch bei freiem Eintritt auf dem Josef-Haubrich-Hof vorstellen, dem heruntergekommenen Platz neben der mittlerweile verwaisten Stadtbibliothek. Warum gerade dort?
Der Zustand des öffentlichen Raums ist ein Spiegelbild des Gemeinwesens. Wenn verwahrloste Orte entstehen, die hässlich sind und sogar als Angsträume wahrgenommen werden, stimmt etwas nicht. Der Josef-Haubrich-Hof ist deshalb so gut geeignet, über Demokratie zu sprechen, weil es genau dort nicht die perfekte Lösung gibt. Niemand kann sagen, wie man in kurzer Zeit daraus einen guten und schönen Ort machen kann. Es setzt voraus, dass Menschen gemeinsam überlegen: Wie kriegen wir das hin? Das Unbequeme besteht darin, dass die schwer Drogenabhängigen diesen öffentlichen Raum im Moment sehr stark beherrschen.
Das scheint Abhilfe schwierig.
Trotzdem muss man schwer aufpassen, nicht ausgerechnet die Schwachen zum Opfer zu machen. Also hingehen, gemeinsam überlegen: Wie könnte die gute Lösung aussehen? Menschen sind für die Demokratie nur zu begeistern, wenn sie das Gefühl haben, dass mit öffentlichem Streit über die beste Lösung etwas vorankommt. Wegsehen und Nichtgestalten ist der falsche Weg.
Unter dem Titel „Der öffentliche Raum hat keine Lobby“ werden Sie am Sonntag mit der Architektin Dörte Gatermann und dem Soziologen Sebastian Kurtenbach über Lösungsansätze sprechen. Warum hat der öffentliche Raum keine Lobby?
Wir brauchen ein bestimmtes Klima, um möglichst viele Menschen zur Mitgestaltung zu motivieren. Die Verwandlung von etwas Hässlichem in etwas Schönes ist oft der Anfang von Veränderung. Das Gegenteil ist das Laufenlassen. Und dafür ist der Josef-Haubrich-Hof in Köln ja leider nur ein Beispiel.
Der Neumarkt liegt gleich nebenan.
Genau. Dörte Gatermann wird ihre Vision für die Stadt vortragen, ein Konzept, das sich „1000 Stühle und 1000 Bäume“ nennt. Die Einzelheiten gibt es am Sonntag.
Mit dabei beim Vormittag „Die Stadt und die Demokratie gehen“ ist auch der Kabarettist Jürgen Becker. Wer soll sich angesprochen fühlen zu kommen?
Wir wollen an eine uralte Idee anknüpfen: Die Demokratie hat im Lokalen begonnen, vor ein paar Jahrtausenden in Athen. Viele sind eingeladen gewesen, mitzutun. Wer nicht gekommen ist, galt als Idiot. Für die Rettung der Demokratie könnte auch heute zentral sein, dass die Neubelebung aus dem Raum des Lokalen entsteht.
Zur Person und zur Veranstaltung
Jürgen Wiebicke ist Kölner Buchautor und Radiomoderator („Das philosophische Radio“, WDR 5). Sein neues Buch „Erste Hilfe für Demokratie-Retter“ ist gerade erschienen.
Am Sonntag, 18. August, wird es im Kulturkubus auf dem Josef-Haubrich-Hof in der Kölner Innenstadt von 11 bis 14 Uhr unter dem Titel „Die Stadt und die Demokratie“ mehrere Diskussionen mit Publikums-Beteiligung geben. Veranstalter ist das Haus der Architektur Köln. Der ist Eintritt frei, keine Anmeldung erforderlich.
11 Uhr „Erste Hilfe für Demokratieretter“: Jürgen Wiebicke (Autor) spricht mit Dr. Sarah Brasack (stellvertretende Chefredakteurin Kölner Stadt-Anzeiger) über sein Buch und die neuen Herausforderungen für die Demokratie.
12 Uhr „Der öffentliche Raum hat keine Lobby“: Prof. Dörte Gatermann (Architektin) spricht mit Prof. Dr. Sebastian Kurtenbach (Soziologe) über Kölner Plätze, Verwahrlosung und die Drogen-Szene. Moderation: Jürgen Wiebicke
13 Uhr „Demokratie und Stadt – zwei Seiten einer Medaille“: Franz Meurer (Pfarrer), Jürgen Becker (Kabarettist) und Regina Stottrop (Stadtplanerin) sprechen über demokratische Prozesse in Köln und die Bedeutung des öffentlichen Raumes. Moderation: Helga Frese-Resch (stellvertretende Verlegerin Kiepenheuer & Witsch