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„Ich bleibe vorsichtig optimistisch“Essays einer Kölner Holocaust-Überlebenden

Lesezeit 7 Minuten
GretaIonkis

Die Kölner Schriftstellerin Greta Ionkis

Köln – Greta Ionkis, 83-jährige Tochter einer russischen Jüdin und eines deutschen Protestanten, ist als Jüdin und als Deutsche diskriminiert worden. Wenn sie sagte, dass ihr Vater Deutscher ist, wurde sie auf dem Schulhof verspottet. Verwandte von ihr wurden im Holocaust ermordet, sie selbst konnte mit ihrer Mutter und Großmutter fliehen; ihren Vater, der zwei Monate nach ihrer Geburt von Stalins Schergen verhaftet wurde, lernte sie nie kennen, suchte aber zeitlebens nach Informationen über ihn.

„Grundsicherung ist mir egal“

Seit 1994 lebt die Literaturwissenschaftlerin, Historikerin und Kulturwissenschaftlerin in Köln. Nach Deutschland ist sie mit ihrem Mann vor allem wegen ihres unbekannten Vaters gezogen. Nein, sie sei hier außer in Zeitungs- oder Fernsehberichten nie Antisemitismus begegnet, sagt sie an einem hellen Frühlingsmorgen vor der Stadtbibliothek am Neumarkt, als die Kirschblüte noch nicht ganz verblüht ist. Neben ihr sitzen Drogenabhängige auf den Stufen, Ionkis hat einige ihrer Bücher mitgebracht und Briefe ihres Vaters, in denen er schreibt, dass er sich nach ihr, seiner Tochter Greta, sehne. Zu jedem Buch und jedem Brief erzählt sie eine Geschichte. Nebenan zersplittert eine Bierflasche auf dem Asphalt.

Dass sie, die zwei Doktortitel und eine Professur trägt, in eine Reihe bedeutender wissenschaftlicher Persönlichkeiten der Eliteuniversität Cambridge aufgenommen wurde und in Russland als intellektuelle Autorität gilt, in Köln von Grundsicherung lebt, sei ihr „ganz egal“, sagt sie und lacht. „Geld war mir nie besonders wichtig.“

Alles zum Thema Henriette Reker

Vorsichtig optimistische Realistin

Sie habe nie an ihrer Geschichte und der Geschichte der Juden und Deutschen leiden wollen, obwohl sie viel Leid erfahren habe, sagt Greta Ionkis. „Ich möchte Gemeinsames entdecken, in der Hinsicht bin ich eine vorsichtig optimistische Realistin. Und ich will die Geschichte verstehen. Meine eigene – und die der Juden und Deutschen in der Geschichte.“ Nur, wenn man Zusammenhänge kenne, ließen sich Vorurteile und Eskalationen nachvollziehen wie aktuell die Gewalt zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas im Gaza-Streifen, wie den Antisemitismus von rechter, linker oder arabischer Seite in Deutschland.

Die Macht der Worte deutsch und jüdisch

Dass sie die Tochter eines Deutschen war, durfte auch nach dem Krieg niemand erfahren. In Odessa, wo sie nach dem Krieg zunächst lebte, Verbot ihrer Mutter der Tochter, Deutsch zu sprechen. Bei der Bewerbung an der Universität sollte niemand von ihrem deutschen Vater wissen. Später erhielt sie von einer ukrainischen Universität vermutlich wegen ihres jüdischen Namens eine Absage. „Deutsch“, „jüdisch“ – diese beiden Worte hatten in ihrem Leben immer Macht; sie sind auch ein Grund, warum sich Greta Ionkis mit der Macht der Sprache befasste. Und in ihrem Buch den beiläufigen Satz schreibt: „Worte nutzen sich ab wie alle Dinge.“

Mit der deutschen Geschichte und ihren Bezügen zum Judentum habe sie sich erst intensiver beschäftigt, seit sie in Deutschland lebe, sagt sie. In Köln lernte Ionkis Kathinka Dittrich von Weringh kennen, die ab 1990 das Moskauer Goethe-Institut aufgebaut hatte und von 1994 an vier Jahre Kölner Kulturdezernentin war.

Ionkis zeigte ihr ihre auf Russisch geschriebenen Essays, deren Spektrum weit ist: Sie erörtert darin, was es mit dem Edikt von Kaiser Konstantin aus dem Jahre 321 auf sich hat, das dem Kölner Stadtrat vor 1700 Jahren vorschrieb, Juden in die Kurie zu berufen – auch, weil sie dafür erhebliche Summen bezahlen mussten. Sie beschreibt, wie Martin Luther zum Antisemiten wurde, als es ihm nicht gelang, Juden zum Konvertieren zu bewegen, welchen Einfluss Luthers antijüdische Haltung fortan hatte und Jahrhunderte später den Nazis als Argument für ihre Rassenideologie diente. Sie widmet sich jüdischen Bezügen in den Werken von Goethe, Lessing, Heine, Böll und Grass und verteidigt Günter Grass gegen Vorwürfe des Antisemitismus, die in seinen letzten Lebensjahren lauter wurden. Sie ordnet Willy Brandts Kniefall von Warschau ein, erklärt, warum es in der aktuellen Debatte um ein kollektives Gedenken und nicht um Kollektivschuld gehen sollte; sie setzt psychologisch auseinander, warum der Mensch nicht lange trauern könne und Buße nur im Wissen um die Geschichte getan werden könne. Ein eigenes Kapitel widmet sie dem Stolperstein-Projekt des Künstlers Gunter Demnig, das mit bislang mehr als 75 000 Steinen an Opfer des Nationalsozialismus erinnert.

Oberbürgermeisterin sieht Wissenslücke gefüllt

Kathinka Dittrich von Weringh war beeindruckt von den Aufsätzen und versprach, Ionkis bei der Suche nach Verlagen und Unterstützern zu helfen. Jüngst ist das Buch „Juden und Deutsche im Kontext von Geschichte und Kultur“ erschienen. Oberbürgermeisterin Henriette Reker lobte, dass die Essays hochaktuell seien und „hervorragend herausstellen, wie wechselhaft die Beziehung zwischen Juden und Deutschen in der Vergangenheit war“. Das Buch schließe eine „historische Wissenslücke“. Es sei ein wichtiger Beitrag, „um antisemitischen Strömungen entgegenzuwirken“.

Unterstützt haben die Veröffentlichung auch das NS-Dokumentationszentrum, die christlich-jüdische Gemeinschaft, die Bibliothek Germania Judaica und, als beständige Begleiterin, Dolmetscherin und Brückenbauerin Ionkis Freundin Isabella Khoussid.

Wie konnte Auschwitz geschehen?

Warum nur? Wie konnte es zum Massenmord an den Juden, wie zu Auschwitz, dem „höchsten Symbol des Leidens“, diesem „ungeheuerlichen Verbrechen“ kommen? Welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen den Deutschen der Epoche Goethes und den Deutschen, die Adolf Hitlers Partei zur stärksten Fraktion im Reichstag wählten? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem historisch gewachsenen geistigen Reichtum des Landes und der Brutalität und Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus? Solche Fragen haben Greta Ionkis bei ihrer breit angelegten Recherche angetrieben.

Schreiben als Rettung

Ähnlich wie der bekannte deutsche Sprachwissenschaftler Victor Klemperer, der als Jude Auschwitz nur durch ein Wunder überlebte und beständig Tagebuch geschrieben hatte, das 1947 veröffentlicht und ein viel gelesenes Dokument des Grauens wurde, bezeichnet Greta Ionkis das Lesen und vor allem das eigene Schreiben als ihre Rettung.

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Ihr gehe es nicht nur um eine Beschreibung des Antisemitismus, des Holocausts und seiner Ursachen, sondern auch darum, „wie sich die Kulturen gegenseitig befruchtet haben und wo sich Verhältnisse verbessert haben“. So schreibt Ionkis ausführlich über den Besuch von Papst Benedict XVI. in der Kölner Synagoge im August 2005, dem ersten Papst-Besuch in einem jüdischen Gebetshaus in Deutschland seit 1700 Jahren – auch eingedenk der Tatsache, dass Joseph Ratzinger als Junge in der „Hitlerjugend“ war und die Synagoge 1938 von den Nazis in Brand gesteckt wurde. „Nie wieder!“ sagte der Papst in der Kölner Synagoge vor Überlebenden von Auschwitz und Buchenwald. Abraham Lehrer, Vorstand der Synagogengemeinde, sah seinerzeit in Papst Benedict nicht nur das Oberhaupt der katholischen Kirche, „sondern auch den Deutschen, der sich seiner historischen Verantwortung stellt“.

Antijudaismus in der Kölner Geschichte

Ionkis Buch ist voller großer und kleiner, aktueller und historischer Geschichten. Sie skizziert den Antijudaismus der Kölner Dominikaner und des zum Christentum konvertierten Kölner Juden Joseph Pfefferkorn im Streit um die Verbrennung jüdischer Schriften Anfang des 16. Jahrhunderts; sie befasst sich mit der historischen Entscheidung von Papst Johannes XXIII., 1959 aus dem Satz „Lasst und beten für die treulosen Juden“, der Jahrhunderte lang zur vorösterlichen Liturgie gehörte, das diffamierende Adjektiv zu streichen; sie ordnet das Schuldbekenntnis von Papst Johannes Paul II. vor der Klagemauer in Jerusalem ein („Meine Sünde, meine große Sünde“) und erklärt mit Hilfe eines Freundes ausführlich die Symbolik der Architektur und der Skulpturen des Heinrich-Böll-Platzes (Ma’alot), die auch als Holocaust-Mahnmal zu lesen ist.

Gespräche mit Jugendlichen

„Ohne Frieden zwischen den Kulturen und Religionen kann es niemals Frieden auf der Welt geben“, sagt die Schriftstellerin. „Wege dazu sind Demut, Wissen und Dialoge.“ Beeindruckend ist sowohl im persönlichen Gespräch wie in ihren Texten, wie ruhig und versöhnlich ihr Ton ist. Während das Buch trotz anschaulicher und verständlicher Sprache eher für Menschen mit Vorbildung gedacht ist, freut sich Greta Ionkis besonders, wenn Sie jungen Menschen von der Geschichte erzählen kann. Jüngst hat sie das für ein Zeitzeugen-Projekt des Bundesverbands Information und Beratung für NS-Verfolgte getan – per Videokonferenz. Sie sagt: „Ich möchte immer mit jungen Menschen im Gespräch bleiben. Viele von ihnen sind weltoffen und aufgeschlossen. Sie können den Frieden schaffen, den die Alten nicht geschaffen haben.“

Greta Ionkis: Juden und Deutsche im Kontext von Geschichte und Kultur, aus dem Russischen von Christine Rädisch; Hentrich & Hentrich Verlag