Erzieherin Charlotte Weinmann erzählt von unfassbarem Leistungsdruck seitens der Eltern – die selber teilweise gar keine Zeit für ihre Kinder haben.
Kita-Kinder in Köln„Sie können keinen Ball fangen und kein Bild ausschneiden“
Als mein Blick diese strahlend-blauen Augen erhascht und ich wenig später Charlotte Weinmann beim Cappuccino gegenübersitze, gehe ich zunächst von einem heiteren Gespräch aus. Die 33-Jährige kommt quasi schnurstracks aus Kopenhagen, wo zwei ihrer drei Brüder leben.
Mindestens einmal im Jahr komme es in der dänischen Hauptstadt zu einem Familientreffen, berichtet Weinmann und gerät dabei ein wenig ins Schwärmen über Nyhavn, die wunderbare Häuserzeile entlang des Kanals, die tatsächlich ein wenig dem Kölner Altstadt-Panorama ähnele. Kein Vergleich zu Köln sei indes die tolle Einkaufsstraße Stroget, eine der längsten Fußgängerzonen Europas. „Da macht es auch Spaß, an den Luxus-Geschäften vorbei zu bummeln und einen Blick auf die Dinge zu werfen, die man sich nicht leisten kann.“
Wir kommen überein, uns eine Betrachtung der Hohe Straße zu schenken. Aber einen Dänemark-Vorteil möchte Weinmann, die gebürtig aus Dormagen stammt, nicht unerwähnt lassen: „Dort gibt es keine Studiengebühr. Im Gegenteil. Der dänische Staat bezahlt Studierenden, die nicht mehr zu Hause wohnen, umgerechnet 800 Euro monatlich, damit sie wirklich studieren können und nicht dauernd jobben müssen, um Leben und Miete zahlen zu können.“
Leistungsdruck und Anspruchsdenken
Weinmann studiert Soziale Arbeit und hat zuvor – insgesamt etwa zehn Jahre lang – in unterschiedlichen Städten als Erzieherin in Kitas gearbeitet. Zuletzt in einem Kölner Betriebskindergarten, wo man bei den Eltern von einem hohen Akademiker-Grad ausgehen konnte. Weinmann erzählt von unfassbarem Leistungsdruck und Anspruchsdenken seitens der Eltern. Und Druck. – „Druck wobei?“, frage ich. „Dass die Kinder sauber werden, dass der Schnuller wegkommt, dass sie laufen können, dass sie frühzeitig – möglichst sechs – Sprachen lernen. „Die haben teilweise noch 15 Aktivitäten neben der Kita, wo die hingekarrt werden.“
Weinmann erzählt von einem Kind, „das hat mir damals schier das Herz gebrochen“, weil es jeden Tag zum frühst möglichen Zeitpunkt gebracht und erst zum Abend abgeholt wurde. „Beide Elternteile wollten unbedingt Karriere machen. Schaffst du dir da nicht besser einen Hamster an?“ Die 33-Jährige schildert Kindergeburtstage, bei denen für viel Geld ein Caterer eingeschaltet wurde und von Geschenken zu Ostern, die jeden vernünftigen Rahmen sprengen.
Die Mülltonnen nach etwas Essbarem durchsucht
Genau das Gegenteil habe sie in einer Düsseldorfer Kita erlebt in einem Brennpunktgebiet mit vielen Nationen und größter Armut. Dort hätten sich die Eltern schier in Dankbarkeit überschlagen, „dass wir ihre Kinder betreuen“. Weinmann erzählt von Kindern mit schwarzen Zähnen, „die noch nie Zahnhygiene kennengelernt hatten“ und von einem Vater, der morgens mit seinem Ältesten die Mülltonnen nach etwas Essbarem durchsuchte. „Teilweise erlebt man zwei komplett unterschiedliche Welten – fast nur einen Steinwurf voneinander entfernt.“
„Haben Sie in den zehn Jahren irgendeine markante Veränderung erlebt?“, frage ich. Mein Gegenüber nickt. „Unabhängig vom kulturellen oder sozialen Background erleben wir immer deutlicher die Folgen eines übermäßigen Medienkonsums: Das kleine Kind kriegt morgens beim Anziehen das iPhone der Eltern in die Hand gedrückt. Damit man es anziehen oder ihm die Schuhe zubinden kann“, ohne dass rumgezappelt werde. Kindern seien - sowohl was die Grobmotorik betreffe, als auch bei der Feinmotorik „eingeschränkt und retardiert“. Bälle gezielt werfen, Bälle fangen, auf einem Strich laufen, Purzelbäume schlagen – Fehlanzeige.
Häufigster Satz: „Da haben wir jetzt keine Zeit für!“
„Basteln, etwas ausschneiden – schier unmöglich. In den Kitas gibt es heute Milliarden von Ausmalbildern, weil die überhaupt nicht mehr die Fantasie haben, sich etwas Eigenes auszudenken.“ Dafür müssten Eltern sich ja vielleicht mal hinsetzen und die Kinder motivieren oder anleiten. Da haben die aber keine Zeit zu. Der häufigste Satz, betont Charlotte Weinmann, lautet: „Da haben wir jetzt keine Zeit für!“
„Ich hatte früher als Kind Moos, Kastanien oder Tannenzapfen“, erzählt die Studentin. „Heute haben die Plastikspielzeug, was Geräusche macht.“ Eltern, so Weinmanns Kritik, kommunizierten immer weniger mit ihren Kindern, sondern schauten aufs Handydisplay. Sie hörten nicht zu, denn sie hätten ja Stöpsel in den Ohren. Interaktion finde kaum statt. Ein der drängendsten Fragen bei Eltern-Zusammenkünften laute: „Ab wann können wir ihm oder ihr ein Tablet kaufen?“
Viele, sagt Weinmann, können zu Beginn der Grundschule nicht mal die Basics: Alleine den Toilettengang erledigen oder die Jacke anziehen. „Aber sie kennen sämtliche Sendungen auf den Kinderkanälen!“