In Köln leben rund 6000 Menschen ohne Wohnung, einige hundert von ihnen sind obdachlos. Tendenz steigend.
Zum Tag der Wohnungslosen am 11. September sprechen zwei Vertreter Kölner Obdachloser mit dem Sozialdezernenten der Stadt.
Ein Gespräch über die Angst, dass einem etwas weggenommen wird, über die Rolle der Herkunft, die Pflichten der Stadt – und darüber, was sich Menschen ohne Obdach wünschen.
Köln – Jürgen Schneider (56) ist seit vielen Jahren wohnungslos und in Deutschland mit dem Rucksack unterwegs. Er legt Wert darauf, nicht als „Sozial Schwacher“ bezeichnet zu werden. Ilse Kramer (63) hat eine neue Heimat bei der Initiative „Bauen, Wohnen, Arbeiten“ in Ossendorf gefunden. Vorher war sie 15 Monate obdachlos. In der Redaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“ treffen sie auf Harald Rau, der in der Kölner Verwaltungsspitze unter anderem für Soziales und Wohnen zuständig ist.
Glauben Sie, dass das Thema Obdachlosigkeit zur Zeit angemessene Aufmerksamkeit findet?
Jürgen Schneider: Das Thema ist sehr präsent, weil die Wohnungsnot mehr Leute in Gefahr bringt.
Ilse Kramer: Vor zehn Jahren hat jeder noch gesagt: Sowas kann mir nicht passieren. Nun haben viele Mieter Angst, ihre Wohnung zu verlieren.
Harald Rau: Die Sensibilität für das Thema steigt. Sorge um die Menschen und das Gefühl, belästigt zu werden, mischen sich.
Wenn man durch die Stadt geht, hat man den Eindruck, dass es so viele Obdachlose und Bettler gibt, wie noch nie. Man hört von Konkurrenzen in Suppenküchen und Kleiderkammern, mancher schimpft über die Menschen aus den osteuropäischen Ländern, die nach Köln kommen.
Schneider: Das Problem ist nicht unbedingt die Herkunft der Leute. Das Problem ist, dass es so viele sind. Und da hat schon mancher Angst, dass ihm was weggenommen wird.
Kramer: Diese Sorge gab es immer schon. Das ist einfach Neid.
Rau: Ich denke schon, dass wir die Herkunft der Menschen nicht ganz ignorieren können. Diejenigen, die aus osteuropäischen Staaten kommen, haben einen schwierigen Status. Die Freizügigkeit in der EU erlaubt, dass sie hier nach Arbeit suchen dürfen. Aber wenn sie keine finden, müssen sie fast ohne Sozialleistungen auskommen. Das ist schon ein Problem.
Sind die Hilfeleistungen der Stadt ausreichend?
Rau: Man muss selbstkritisch sagen, dass das, was wir tun nicht ausreichend ist. Gleichzeitig muss man aber auch feststellen, dass viel geschieht, um die Lage zu verbessern. Es gibt viele Angebote in Köln, wir haben allein 800 Schlafplätze.
Schneider: Quantität ist nicht das gleiche wie Qualität. Die Stadt muss die Grundversorgung der Menschen sicherstellen. Und dazu gehört eine Wohnung mit einer abschließbaren Tür.
Kramer: Ich arbeite bei der Winterhilfe mit. Da treffen wir so viele tolle Leute, die absolut wohnfähig und topfit sind. Weil sie aber keine Hoffnung mehr haben, irgendwann eine Wohnung zu finden, versumpfen die. Dabei ist Wohnen doch ein Menschenrecht.
Rau: Das sagt auch das Gesetz. Wir haben den Auftrag, die Gefahr von Obdachlosigkeit abzuwenden.
Schneider: Ich weiß, dass es nicht von heute auf morgen gelingt, dass jeder eine Wohnung hat, der eine will. Aber man muss das anstreben.
Es hat spektakuläre Aktionen wie Hausbesetzungen gegeben, um auf die besondere Not wohnungsloser aufmerksam zu machen…
Kramer: Dieses Problem liegt mir sehr am Herzen. Ich habe selbst erlebt, wie es in den Unterkünften zugeht und ich nur noch dachte, dass ich da schnell weg muss, wenn ich nicht zur Mörderin werden will. Es macht mich wütend und traurig, wenn ich sehe, dass es in der Stadt Häuser gibt, die jahrelang leer stehen. Auf dem Ehrenfeldgürtel gibt es so ein Haus. Da werden zur Tarnung Mülltonnen rausgestellt und ab und zu im Dachgeschoss das Licht angemacht.
Rau: Wenn es einen solchen Leerstand gibt, können wir dabei nicht zuschauen. Wir haben jetzt mehr Personal, um Fehlnutzungen und Nicht-Nutzung von Wohnraum zu ahnden. Wir suchen in den Fällen von Leerstand nach Lösungen, um die Wohnungen wieder nutzbar zu machen. Auch bei Häusern, die die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, besitzt. Das Bewusstsein für die Wohnungsnot ist so groß, dass jetzt alle mehr tun wollen.
Einige Wohlfahrtsverbände haben sich für eine Quote bei Neubauprojekten ausgesprochen, damit Menschen, die auf dem Markt keine Chance mehr haben, eine Wohnung bekommen. Was halten Sie davon?
Rau: Wir wollen Quartiere der sozialen Vielfalt und der vielfältigen Nutzung. Das geht nicht von alleine. Wir brauchen solche Quoten. Meine langfristige Vision ist, dass alle sagen, es ist so attraktiv, gemischt zu wohnen, dass man keine Quote zur Steuerung mehr braucht.
Wie hoch soll diese Quote sein?
Rau: Ich sage heute keine Zahl, weil Quoten für verschiedene Gruppen vorstellbar sind. Nicht nur obdachlose Menschen, sondern auch behinderte Menschen, überhaupt Menschen mit besonderem Fürsorgebedarf sind da zu berücksichtigen.
Neben der Bekämpfung der Wohnungsnot geht es auch um die akute Hilfe für die Betroffenen. Was sind die wichtigsten Wünsche der Betroffenen an die Stadt?
Kramer: Wir brauchen mehr Ganztagsangebote. Es ist nicht richtig, dass sogar im Winter Menschen morgens zurück auf die Straße müssen. Bei uns können die Leute nach einem Frühstück tagsüber einen offenen Bereich nutzen und werden nicht wie in anderen Einrichtungen trotz Kälte vor die Tür gesetzt. Das muss anders sein.
Rau: Die Politik hat das Problem erkannt. Wir machen jetzt aus unserer Notunterkunft in der Vorgebirgsstraße ein Ganztagsangebot. Wir kombinieren das Vorbildliche einer Einrichtung wie Gulliver am Bahnhof mit einem Übernachtungsangebot mit 90 Plätzen.
Schneider: Das Haus in der Vorgebirgsstraße und ein Gulliver reichen natürlich nicht. Das müsste für alle Einrichtungen vorbildlich sein.
Kramer: Ein sehr großes Problem ist das Fehlen von öffentlichen Toiletten, die man kostenlos benutzen kann.
Schneider: …und ein Dixi-Klo ist dafür keine Lösung.
Rau: Das ist tatsächlich ein wichtiges Thema. Köln braucht ein neues Toiletten-Konzept. Die größte Schwierigkeit ist: Öffentliche Toiletten brauchen eine enge Betreuung. Weil das nicht gewährleistet war, sind so viele geschlossen worden. Es gibt Arbeitsgruppe, die sich zur Zeit um die Lage am Breslauer Platz kümmert. Da können wir über das Bundesteilhabegesetz zwei Jahre Geld für die Betreuung zahlen.
Kramer: Das Problem ist, dass man in der Regel für Toiletten bezahlen muss. Dafür hat ein Wohnungsloser kein Geld.
Rau: Die Seniorenvertretung hat vorgeschlagen, Gastronomen Geld dafür zu zahlen, dass sie ihre Toiletten für jeden zugänglich machen. Ich bin für jede gute Idee dankbar. Vielleicht könnten auch Obdachlose selbst die Betreuung einer Toilette übernehmen. Wenn Sie es schaffen, das zu organisieren, würde sofort alles in Bewegung setzen, um es zu unterstützen. Machen sie einen Vorschlag für ein Experiment!
Kramer: Ich kann mir das vorstellen.
Schneider: Man muss die Ideen einfach ausprobieren. Es ist immer richtig, die Leute einzubinden. Man muss den Betroffenen nur richtig zuhören. Da gibt es viele soziale Kompetenzen. Da sind ja nicht nur Leute aus Heimen für Schwererziehbare wie ich; da sind auch ehemalige Manager. Auch, derjenige der abgestürzt ist, bleibt ein Experte.
Zu den Personen
Jürgen Schneider (56) ist seit vielen Jahren wohnungslos und mit Rucksack in Deutschland unterwegs.
Ilse Kramer (63) hat mit der Initiative „Bauen, Wohnen, Arbeiten“ in Ossendorf ihr eigenes Haus mitgebaut. Vorher war sie 15 Monate obdachlos.
Harald Rau (57) ist seit 2016 im Kölner Stadtvorstand unter anderem für die Bereiche Soziales und Wohnen zuständig.
Fühlen Sie sich manchmal von Wohlfahrtsverbänden oder wohlmeinenden Politikern bevormundet?
Schneider: Ich würde nicht von Bevormundung sprechen. Es gibt eher eine gewisse Hilflosigkeit bei der Frage, wie man die Betroffenen besser direkt einbinden kann. In Dänemark sind Wohnungslose Sachverständige in Sozialausschüssen. Das finde ich gut.
Da haben Sie sich nicht gerade den spannendsten Begegnungsort ausgesucht…
Schneider: Ich finde eine Sozialausschuss-Sitzung total spannend.
Sie haben unangenehme Erfahrungen mit der Stadtverwaltung gemacht, als sie im Sozialamt Geld abholen wollten. Was ist passiert?
Schneider: Ich wollte am Freitagmorgen mein Geld abholen und bin wenig freundlich vom Sicherheitspersonal darauf hingewiesen worden, dass ich wieder gehen sollte, weil ich keinen Termin habe. Die zu knappen Öffnungszeiten im Kalkkarree sind ein Problem. Und ein Wachdienst ist nicht dafür da, mir zu sagen, dass ich ein Termin haben muss, um mein Geld zu bekommen.
Rau: Wir haben den Fall geprüft, bedauern ihn und lernen daraus.
Schneider: Wozu braucht man den Wachdienst überhaupt?
Rau: Bei den städtischen Mitarbeitern wird die Sorge um die eigene Sicherheit größer. Immer mehr machen die Erfahrung, wie es ist, bedroht zu werden. Darauf müssen wir reagieren. Wir brauchen Sicherheitsleute, denn sonst leiden unsere Mitarbeiter. Aber wir müssen uns darum kümmern, dass das Sicherheitspersonal nicht abweisend sondern hilfsbereit ist. Den Wunsch nach längeren Öffnungszeiten verstehe ich, aber wir müssen auch schauen, mit welchem Einsatz wir die besten Ergebnisse bekommen. Es ist auch wichtig, dass wir uns als Bürgerschaft ein bisschen erziehen: Mit einem Termin ist es besser als ohne.
Was würden Sie sich noch für die Zukunft wünschen?
Kramer: Die Benutzung der KVB ist zu teuer. 40 Euro für jemanden mit Kölnpass ist zu viel.
Schneider: Menschen mit wenig Geld sollten kostenlos fahren können.
Rau: Es ist eine politische Frage, wieviel uns die Unterstützung wert ist. Beim Thema Preise im Nahverkehr ist gerade viel in Bewegung – über die Preispolitik der KVB wird zu Zeit viel diskutiert.