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Konzeptkunst der KriseAus welcher Idee heraus „Liebe deine Stadt“ entstanden ist

Lesezeit 7 Minuten
Liebe deine Stadt

Mit einem Kran wurden die drei Wörter vom Dach an der Schildergasse transportiert.

  1. Eine architektur- und kunsthistorische Einordnung des bekanntesten Kölner Imperativs.

Ein rot-weiß lackiertes Fahrrad als mobiler Kiosk. Preisschleifen, die herausragende Gebäude auszeichnen, ein warmleuchtender Schriftzug im Herzen der Stadt: „Liebe deine Stadt“. Der Kölner Künstler Merlin Bauer erinnert mitten im Alltag daran, dass die Qualitäten einer Stadt nicht selbstverständlich sind, dass sie stets Engagement brauchen. Er hat für die Probleme der Stadt, die immer auch die der Stadtgesellschaft sind, eine breite Öffentlichkeit geschaffen. Und er setzt diesen Problemen Positives entgegen: Liebe deine Stadt!

„Es gab Köln und New York“

Zur Vorgeschichte: In Köln drohten vor 20 Jahren gerade jene Gebäude verloren zu gehen, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs Zeichen setzten für den demokratischen Aufbruch: die Oper, das Schauspiel, die Josef-Haubrich-Kunsthalle, Ort legendärer Kunstereignisse der 60er und 70er Jahre, von Happenings und Fluxus-Aktionen von Beuys und Vostell. Dort trafen die Öffentlichkeit und weltweit führende Künstlerinnen und Künstler aufeinander. Das sinnlose Ende dieser Institution, die 2003 abgerissen wurde, war für Kritiker ein Beleg für das Scheitern demokratischer Strukturen. Was blieb war eine innerstädtische Brache, auf der erst 2010 das Kulturquartier am Neumarkt eröffnet wurde. Zu diesem Zeitpunkt war das Historische Archiv der Stadt Köln, eines der bedeutendsten in Europa, bereits bei Bauarbeiten an der U-Bahn eingestürzt. Die Krise war spürbar: Köln hatte sein bauliches und kulturelles Erbe vernachlässigt und durch die Übergabe zentraler städtischer Bauprojekte an zum Teil aggressive Investoren hunderte Millionen Euro verschwendet. Köln erlebte eine tiefe kulturelle Krise, die Stadt, die sich als Kunstzentrum drei Jahrzehnte zuvor mit New York maß und messen konnte. Wie der Fotograf Benjamin Katz rückblickend sagte: „Es gab Köln und New York.“

„Liebe deine Stadt“ und rette sie

Merlin Bauer reagierte darauf 2005 mit dem Projekt „Liebe deine Stadt“. Das Versagen der Politik nahm er zum Anlass, die Stadtgesellschaft für die bedrohten Qualitäten der eigenen Stadtgestalt zu sensibilisieren, an die Chancen und Utopien zu erinnern, die sich in ihre Plätze und Gebäude eingeschrieben haben. Mit spielerischen Aktionen schafft er seither öffentliche Orte für Gemeinschaft und Diskussion, macht auf Gebäude aufmerksam, die vom Vergessen bedroht sind und fordert apodiktisch „Liebe deine Stadt“. Seine Aktionen feiern die architektonischen und städtebaulichen Qualitäten und sind damit wie oft in der Konzeptkunst von hohem identifikatorischen Potenzial. Dabei ist „Liebe deine Stadt“ auf intelligente Weise doppelbödig angelegt, nämlich auch als dezidiert kritische Arbeit über Vernachlässigung, Gedankenlosigkeit und Korruption. Der Imperativ ist kein Zufall und seine Befolgung kann nicht ohne Folgen bleiben.

Die Kunst ist das Konzept

Das Projekt „Liebe deine Stadt“ schließt an eine konzeptuelle Tradition an, in der etwa auch die statistisch angelegte Arbeit „Shapolsky et al. Manhattan Real Estate Holdings, A Real Time Social System, as of May 1, 1971“ von Hans Haacke steht. In der geht es um intransparente Geschäfte New Yorker Immobilienhaie wie Harry Shapolsky. Haacke recherchierte deren Praktiken, etwa überhöhte Mieten für sanierungsbedürftige Häuser, und montierte 146 Fotos von New Yorker Gebäuden, sechs Tabellen mit Finanztransaktionen und Pläne von Harlem und der Lower East Side in Glasrahmen und machte so die Geschäfte nachvollziehbar. Seine Arbeit machte die Zustände sicht- und anklagbar.

Auch Köln kannte Investoren, die an der Stadt nur so weit interessiert waren, wie sie die Rendite ihrer Fonds erhöhen konnten und wie sich dieses Interesse durch freundschaftliche Beziehungen in Entscheidungsgremien durchsetzen ließ. Merlin Bauer setzte mit seinen Aktionen neben Aufklärung auf Emotion: Was die Stadt ausmacht, ist die Gegenwart der anderen, die Feier der Gesellschaft, die sich sichtbar machen lässt mit so geringen Mitteln wie einem Eisverkäuferfahrrad. Bauer fand zu einer eigenen, die Stadtfarben Rot und Weiß aufgreifenden Formensprache und schließlich zu einem ikonischen, dauerhaft sichtbaren Schriftzug, der 2007 auf dem Dach eines Geschäftshauses über der zentralen Nord-Süd-Fahrt seinen Ort fand: „Liebe deine Stadt“.

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Trotzdem blieb „Liebe deine Stadt“ vor allem eine konzeptuelle Arbeit, wurde aber als solche allenfalls auf den zweiten Blick wahrgenommen, was Werke der Konzeptkunst generell auszeichnet. Das ermöglicht ein Wachsen der Arbeit über sich und ihren Initiator hinaus mitten hinein in ihr Thema, die Stadt. Die Arbeit gerinnt zwar zu formalen, wiedererkennbaren Objekten. Ihr eigentliches Wesen aber ist prozessual, ihre Aussage universell. Angepasst auf die jeweiligen Soziotope und Bildtraditionen könnte sie auch die Situation in jeder anderen Stadt zum Thema haben und ist daher hochadaptiv.

„Liebe deine Stadt“ – es wirkt

„Liebe Deine Stadt“ hat so ganz unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen erreicht – Kunstbegeisterte wie Fußballfans. Unter dem Banner „Liebe deine Stadt“ und in dem korrespondierenden Projekt „Ihr seid Künstler und wir nicht!“ (2009), das den Kölner Karneval und den Rosenmontagsumzug mit einem Festwagen als Diskursplattform nutzte, wurde der Widerstand gegen die toxischen Interessen weniger Investoren auf die Straße getragen und die Diskussion darüber in die Öffentlichkeit.

Der Schriftzug „Liebe deine Stadt“ hat inzwischen ein Eigenleben entwickelt, wie das in den 70er Jahren als Reaktion auf die Krise New Yorks in Auftrag gegebene „I love NY“ des Designers Milton Glaser. Das kombiniert drei Buchstaben und ein rotes Herz und wurde zu einer Art Markenzeichen New Yorks. 30 Jahre später ist „Liebe deine Stadt“ ein Markenzeichen, vielfach adaptiert und kopiert und dabei meist in seiner Komplexität und Tragweite verkannt. Beide sind geradezu universell anschlussfähig und funktionieren in Hoch- wie Popkultur gleichermaßen.

Der Schriftzug findet sich auf Frühstücksbrettchen und Kuschelkissen, es gibt zahlreiche formal-graphische Adaptionen für Werbezwecke. Der Fußballer Lukas Podolski fand ihn passend für Shirts seines Modelabels und verwendete Fotos des Original-Schriftzugs für das Cover einer CD mit dem Titel „Liebe deine Stadt“. Auch in diesen verkitschten Adaptionen spricht sich der Wunsch nach Identifikation mit der Stadt aus. Das künstlerische Konzept bleibt wirksam und diffundiert bis in kunstferne Teile der Gesellschaft.

Labor neuer Strategien

Solche Möglichkeiten, Diskurse humorvoll und emotional in die Breite der Gesellschaft zu tragen, werden dringend gebraucht in Zeiten, in denen die Krise der Städte durch Digitalisierung und notwendigen Klimaschutz verstärkt und durch die Pandemie enorm beschleunigt wird. Wie können die Städte klimafreundlicher werden? Wie schafft man wieder Platz fürs Wohnen, Kultur, kleine Gewerbe? Wie bewältigen die Städte den Verkehr, wo bieten sie Freiraum, Schatten, Erholung?

Zum Gastautor

Dr. Jörg Biesler ist Kunst- und Architekturhistoriker. Er arbeitet vor allem für WDR und Deutschlandfunk, unterrichtete Architekturtheorie an der RWTH Aachen und war Lehrbeauftragter mehrerer Hochschulen. Er berät Architekturbüros und Kommunen und moderiert den Prozess der Kulturentwicklungsplanung in Köln, eine Stadt, die er liebt.

Wendet man sich seiner Umgebung unter dem Motto „Liebe deine Stadt“ zu, dann werden sich auf viele dieser komplexen Fragen neue, andere Antworten finden. Wie wir in den Städten leben, diskutieren und gestalten, das kann ein Labor sein für die Lösung von Problemen auch globalen Maßstabs. Funktionierende Gemeinwesen, deren Mitglieder selbstverantwortlich, gleichberechtigt und demokratisch um die beste Zukunft streiten, sind nicht ohne utopische Dimension – aber mit Blick auf die Strategien der Konzeptkunst Merlin Bauers auch nicht ohne Realisierungsaussicht, mindestens in Teilen und Momenten. Aus dem freundlichen Befehl entsteht eine soziale Plastik, die aus Ideen, Köpfen und Herzen besteht. Sobald der erste Gedanke gefasst, die ersten Argumente getauscht sind, gibt es Gründe, die Stadt zu lieben, sie ist ja nun viel mehr die eigene als vorher.

Erregung öffentlichen Muts

Wer die Aktionen von „Liebe deine Stadt“ erlebt und deren Folgen beobachtet, der wird trotz realistischer Sicht auf die Gegenwart der Städte nicht anders können, als Hoffnung zu schöpfen. Und zwar, weil die Menschen geimpft durch den Gedanken „Liebe deine Stadt“ Abwehr- und Gestaltungskräfte entwickeln. Das Konzept der Kunst von Merlin Bauer zielt mit diesem Imperativ – wenngleich leicht und spielerisch – auf die entscheidende Frage: Wie wollen wir leben?

In Zeiten tiefgreifender Veränderungen bedarf deren Beantwortung neuer Anregung, neuer Erregung, neuen Muts. Ihre Formulierung beginnt in der Nachbarschaft, in unseren Städten. Wir sollten sie lieben!