Köln – Kurt Holl war 69, da schlug er seinem zwölfjährigen Sohn vor, gemeinsam vor Starbucks gegen die Ausbeutung äthiopischer Kaffeebauern zu demonstrieren. Im April 2015 stand er als 76-Jähriger vor Gericht, weil er im Wahlkampf Plakate der rechtsextremen Gruppierung Pro Köln abgehängt hatte. Kurt Holl sagte vor dem Amtsgericht mit seiner sonoren, keinen Widerspruch duldenden Stimme: „Plakate mit Aufschriften wie »Wut im Bauch? Lass es raus!« oder »Bürgermut stoppt Asylantenflut« fallen nicht unter die freie Meinungsäußerung, sie sind offen ausländerfeindlich und haben volksverhetzenden Charakter.“ Eine Episode, wie sie gewiss vorgekommen wäre in seiner Autobiografie, die er leider nicht mehr ganz fertigstellen konnte.
Geboren 1938, war Holl 1956 durch den Aufstand in Ungarn politisiert worden. Von Anbeginn ein streitbarer Mensch, weil er gerne stritt – für andere, gegen Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände – mit dem Ziel, die Verhältnisse grundlegend zu verändern. Er kämpfte gegen Krieg und für den Erhalt von Wohnungen türkischer „Gastarbeiter“, für verbesserte Rechte der mit Pflichtarbeit belegten Sozialhilfeempfänger.
Hedwig Neven DuMont nennt Holl einen „tollen Menschen und tollen Kämpfer“
Mit „Holl hier“ meldete er sich unmissverständlich am Telefon. Was er zu sagen hatte, war oft eilig, weil es Menschenschicksale betraf. Es ging um Jugendliche, die trotz großer Talente auf Förderschulen landen. Um Familien, die trotz großer Integrationserfolge abgeschoben werden sollten. Für Füllwörter war da keine Zeit.
Meist ging es in den Gesprächen um die Situation der Roma in Köln, neue Projekte des Rom e.V., dessen Gründungsmitglied und langjähriger Vorsitzender er war.
Als solchen lernte ihn auch die „wir helfen“-Vorsitzende Hedwig Neven DuMont kennen und schätzen. Sie nennt ihn einen „tollen Menschen und tollen Kämpfer“. Den Mann, der im Jahr 2007 mit ihr den Rheinlandtaler und 2011, wieder gemeinsam, die alternative Ehrenbürgerschaft erhalten sollte, bestach durch eine große Klarheit in seinem Kampf für die Rechte und Würde von Minderheiten. „Er hatte genau das, was es heute zu wenig gibt: Eine klare politische Haltung gepaart mit Warmherzigkeit“, sagt Claus-Ulrich Prölß vom Kölner Flüchtlingsrat.
Die Integration der Roma lag Kurt Holl am Herzen, seit im Sommer 1986 die ersten Familien auf den Butzweilerhof kamen und eine Elendssiedlung entstand, die im Schlamm versank. Mit den Roma besetzte er den Gestapo-Keller im El-De-Haus, bis Willy Brandt deren Abschiebung stoppte. Mit den Roma besuchte er 1988 die Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der Pogrom-Nacht im Schauspielhaus, griff nach Ministerpräsident Johannes Rau ungefragt zum Mikro.
Die Morddrohungen gegen ihn und seine Mitstreiter konnten ihm nichts anhaben. „Dass sich das Bild von den Roma in der Öffentlichkeit gewandelt hat, war einer seiner größten Erfolge“, sagt Elisabeth Klesse, die ihn aus 28 Jahren bei Rom e.V. kennt. „Kurt war furchtlos und unglaublich hartnäckig. Es ist erstaunlich, wie viele seiner eigentlich unmöglichen Ideen wahr geworden sind.“
In Gesprächen mit der Redaktion ging es oft auch um den Zustand der Gesellschaft. Die Gegenwart war für Kurt Holl so nicht hinnehmbar: Die verkürzten, rationalisierten Studiengänge, die Generation Praktikum, die Schwarmmeinungen auf den sozialen Netzwerken, das Dahinsiechen des Idealismus – solche Entwicklungen machten ihn traurig. Er wollte ihnen etwas entgegensetzen.
In Köln gut aufgehoben
Selbst kam er aus (klein)bürgerlichen Verhältnissen. Er ging in seiner bayerischen Heimat Nördlingen, später dann in der Kölner Kreuzgasse aufs Gymnasium, war früh verlobt, wollte ein Häuschen bauen und heiraten, ganz wie die Eltern, wobei er den Vater, der als Soldat der SS 1942 in Russland fiel, kaum kennengelernt hatte. „Aber irgendwann kam das tiefe Unbehagen gegen den Lebensstil der Eltern voll durch“, hat er in einer Fernsehdokumentation über die 1968er Generation gesagt. „Weil die Eltern derart aggressiv auf uns reagierten, wurde es zur politischen Revolte.“ Und Kurt Holl mittendrin, immer einer der Anführer, und dabei stets auch Lebemann, seinem Charisma erlagen viele Frauen. Als Vater zweier Söhne von zwei Müttern ging Holl 2002 noch einmal eine Ehe ein. Seine letzte Frau verstarb am Neujahrstag 2012.
In Köln fühlte sich der Revoluzzer gut aufgehoben: Die klerikale Hochburg bot der Studentenbewegung reichlich Angriffsfläche und eine in Deutschland führende kulturelle Szene, die kreativ wie provokant zu protestieren wusste. 1961 begann sein Studium der Geschichte, Philosophie und Französisch in Heidelberg, Nancy und Köln. Mit dem Auschwitz-Prozess, der „Spiegel“-Affäre und den Notstandsgesetzen wurde ihm die BRD fremd. Kurt Holl protestierte gegen den Vietnamkrieg und kettete sich an Gleise, als die KVB die Fahrpreise erhöhen wollten. 1973 stürmte er mit anderen Demonstranten das Bonner Rathaus.
Lesen Sie im nächsten Abschnitt, warum Kurt Holl im Jahr 1985 auf einer Platane am Kaiser-Wilhelm-Ring übernachtete.
Rechte Hand von APO-Führer Rudi Dutschke
Immer wieder musste sich der Lehrer vor Gericht verantworten, galt als rechte Hand von APO-Führer Rudi Dutschke in Köln und erhielt für fünf Jahre Berufsverbot. Als er 1974 sein Referendariat am Hansa-Gymnasium begonnen hatte, erhielt er nach einigen Monaten die Mitteilung, er sei „charakterlich nicht geeignet“. Die Schüler demonstrierten vergeblich für ihn.
Als Lehrbeauftragter an der Fachhochschule für Sozialarbeit mit dem Thema: „Türkische Dörfer in Köln“ verhindert er mit den Studenten seines Seminars den Abriss einer türkischen Siedlung in Merkenich. Unter den Studenten war auch Jürgen Becker.
1979 versteckte sich Kurt Holl mit einem Fotografen im Keller des El-De-Hauses, um über Nacht Fotos von den Zellen zu machen. Als diese öffentlich gezeigt wurden, kam die Debatte in Gang, die zum Bau der Gedenkstätte führten. Am Kaiser-Wilhelm-Ring übernachtete er 1985 auf einer Platane, um mit anderen Demonstranten den Bau eines Parkhauses und die damit verbundene Fällung der Bäume zu verhindern. Holl, inzwischen Gründungsmitglied der Grünen und für die Fraktion im Stadtrat, wurde angeklagt, weil er Eier und Farbbeutel geworfen hatte. Für Demonstrationen hatte er den Schuldienst am Gymnasium Ostheim geschwänzt – als Lehrer war er stark umstritten, geliebt und gehasst. Wegen des Radikalenerlasses wurde er als Lehrer nie verbeamtet – Holl galt als potenziell verfassungsfeindlich. Den Unterricht nutzte er oft für aktuelle politische Diskussionen, zeigte auch schon mal Anti-Aufrüstungs-Plakate der Grünen, von denen er das Partei-Logo wegknickte.
Kölner Willkommenskultur gab Kurt Holl neue Kraft
Als Sinti-Familien im Sommer 1986 auf dem Schulhof in Ostheim kampierten, ließen der Direktor und andere Lehrer die Gruppe von der Polizei vertreiben. Holl und viele andere Schüler solidarisierten sich mit den Familien und organisierten ein Fest für sie. Lehrer verteilten Flugblätter gegen Holl, Eltern verlangten seine Entlassung. Holl schaltete die Landesregierung ein und durfte schließlich bleiben. Dort, wo damals die Sinti kampierten, entstehen heute Leichtbauhallen für Flüchtlinge.
Mit dem Bildhauer Gunter Demnig entwickelte Holl die Idee der Stolpersteine: Der erste Stein wurde vor dem Historischen Rathaus – ohne Erlaubnis der Behörden – unter Beteiligung des Rom e.V. eingelassen.
Die Kölner Willkommenskultur für Flüchtlinge war eine Entwicklung, die dem zuletzt von den Folgen einer Krebserkrankung gezeichneten Kurt Holl Hoffnung und neue Kraft gegeben hat. Vor einigen Wochen hatte er die Idee, der hohl klingenden politischen Forderung, „die Fluchtursachen in den Ländern selbst zu bekämpfen“, mit einer Aktion entgegenzutreten: Er wollte mit möglichst vielen Menschen nach Mazedonien, Bosnien oder Albanien reisen, um zu sehen, wie die Menschen dort eigentlich leben. Dazu ist es nicht mehr gekommen.
Kurt Holl, der charismatische wie unbeugsame Kämpfer für eine bessere Welt, starb am 10. Dezember. Es war der Internationalen Tag der Menschenrechte.