Hohe Arbeitslosigkeit, Millionen in Kurzarbeit, Inflation, eine gespaltenen Gesellschaft, Aufstieg der Rechtsextremen, viele Ängste und nur vage Hoffnungen – die Zeiten sind unsicher und für viele hart.
Das war die Situation in Deutschland vor hundert Jahren. Die kölsche Musikkultur fand eine Antwort.
Wir springen in die 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts – zu Willi Ostermann, Karl Berbuer und Co., die den Weg für zeitgenössische Kölner Bands wie Kasalla oder Brings ebneten.
Köln – „Wat nütz’ die ganze Kümerei, et kütt jo nix eröm dobei“, kritisiert August Batzem Meckerei und Trübsalblasen. „Wer nicht flüssig ist, der macht sich Sorgen“, weiß Willi Ostermann über die Krise zu berichten, und sein Berliner Schwager Emil Palm reimt auf Kölsch: „Mer kann och alles üvverdrieve, maht et nit ze bunt. Mer wolle doch vernüftig blieve, denn allzeviel es unjesund.“
Wer ein paar musikalische, kölsche Anregungen für den Umgang mit Krisenzeiten sucht, kann sie in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts finden. Hohe Arbeitslosigkeit, Millionen in Kurzarbeit, Inflation, eine gespaltenen Gesellschaft, Aufstieg der Rechtsextremen, viele Ängste und nur vage Hoffnungen – die Zeiten sind unsicher und für viele hart. Und trotzdem sind die Kölner „jeck om Vulkan“, wie der Musikwissenschaftler Jens-Uwe Völmecke findet. Er stellt Lieder aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ins Netz und bietet sie auf Musikportalen als Download oder sogar kostenlos bei Streaming-Diensten an.
Die Kölner Vorläufer von Kasalla und Brings
Nicht nur in den Berliner Varietés wird in den 1920er Jahren wild durch die Krise getanzt, wie es uns zum Beispiel die Fernseh-Erfolgsserie „Babylon Berlin“ zeigt. Auch in Köln wird schwer auf die Pauke gehauen. Gerhard Ebeler textete zu einer Musik von Hans Otten in Zeiten einer sich auflösenden Republik: „De Hauptsaach es, dat mer Musik han, die fleuten un och trumme kann. Täterä, zimmbumm!“
Zu Live-Musik singen und tanzen, kann man in Corona-Zeiten nicht – zumindest nicht in Gemeinschaft. Aber die zusätzliche Zeit, die viele nun haben, ließe sich nutzen für eine musikalische Entdeckungsreise vom heimischen Sofa aus.Kölsche Musik ist seit einigen Jahren allgegenwärtig, die Szene ist riesig. Neben der kölschen Sprache ist es die sehr lange Tradition einer besonderen regionalen Liedkultur, die alle, die sich hier tummeln miteinander verbindet. Die Zeitreise zu den Vorläufern von Kasalla oder Brings muss nicht bei Gerd Kösters „Piano has been drinking“ oder den Anfängen von BAP oder den Bläck Fööss enden, die Pop-, Rock- und Weltmusik in die kölsche Musikszene brachten. Einigen Sammlern wie Jens-Uwe Völmecke, Reinold Louis und anderen ist zu verdanken, dass auch die Musik aus der Vor-Bläck-Fööss-Zeit entdeckt werden kann und viele Originalaufnahmen nicht nur auf Platten und CDs, sondern auch im Internet zu hören sind.
Willi Ostermann brachte einen Stein ins Rollen
Wer sich darauf einlassen will, beginnt natürlich mit Willi Ostermann (1876 – 1936). Er war nicht nur der über Jahrzehnte einflussreichste Liedermacher, Texter und Interpret, er war auch ein cleverer Geschäftsmann, mit dem die Kommerzialisierung der rheinischen Volksmusik begann. Kölsche Lieder bekamen einen Refrain, wurden zu Mitsingangeboten in Sälen und Kneipen. Und: Die Musik war nicht mehr nur ein Live-Ereignis, sondern ließ sich in größerer Zahl als Schellack-Platten verkaufen.
Bis Mitte der 20er Jahre spielten und sangen die Musiker in einen Trichter hinein. Stücke wie Ostermanns knisterndes „Eu-Eu-Eugenie“ – zum Beispiel bei Youtube oder Spotify zu hören – sind völlig in Vergessenheit geraten, weil sie bislang keiner in besserer Aufnahmequalität nachgespielt hat. Mit dem Einsatz von Mikrofonen beginnt erst 1926 eine neue Ära der Aufnahmetechnik, die dem Zeitreisenden heute angenehmer ins Ohr geht.
Kölsches Brauchtum
Neben dem übermächtigen Ostermann gibt es viele weitere Interpreten, deren Repertoire auch heute noch viel Spaß machen kann. „Das ist ehrlich gemachte Musik, die aus der Zeit erzählt“, sagt Jens-Uwe Völmecke. Der 53-jährige Journalist und Produzent sammelt seit mehr als 40 Jahren Schellack-Platten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Rund 30000 davon hat er mittlerweile, ein Schatz zur Dokumentation der Geschichte der deutschsprachigen Unterhaltungsmusik im Allgemeinen und der kölschen Liedkultur im Speziellen.
Motiviert durch den Brauchtumsexperten Reinold Louis, habe er sich ins Thema hineingegraben. „Diese Menge an Liedern gibt es sonst in keiner Region“, weiß er. Doch es geht nicht nur um Quantität, sondern auch um die Qualität. Die Texte würden einen „Kulturzyklus“ abbilden, sie spiegeln das städtische Leben, erzählen Alltagsgeschichten und beschreiben Menschen der Zeit. Da seien die alten Textdichter den meisten von heute weit überlegen gewesen.Die Grundvoraussetzung für die Zeitreise sei „Neugier“ und „Interesse an etwas, das heute nicht mehr dem Mainstream entspricht“, sagt er.
Ein Welthit aus Köln
Tatsächlich gibt es viel zu entdecken und zu bestaunen, wenn man zum Beispiel in das Werk von Karl Berbuer (1900 – 1977) oder von Gerhard Ebeler (1877 – 1956) einsteigt. Karl Berbuer hat mit „Heidewitzka, Herr Kapitän“ eben nicht nur den wohl besten kölschen Karnevalsschlager aller Zeiten oder den unverwüstlichen Nationalhymnenersatz der Nachkriegszeit von den „Eingeborenen von Trizonesien“ geschrieben. Sein Repertoire ist voller Perlen und lustigen Geschichten – manche mit so viel Text, dass es nicht leicht fällt alles zu verstehen.
Noch mehr in Vergessenheit geraten ist sein Kollege Gerhard Ebeler, der mit dem Komponisten Hans Otten ein kongeniales Duo bildete. Den meisten ist wohl nur der hochdeutsche Refrain ihres Welthits "Du kannst nicht treu sein" im Bewusstsein geblieben, der nach dem Krieg in einer englischsprachigen Version ("You can't be true dear", gesungen von Jerry Wayne) auf Platz Eins der US-Charts landete. Die Strophen kennt wohl so gut wie keiner mehr, genau wie Ebelers viele anderen schönen Schlager. Ebelers und Ottens Repertoire vereint thematisch viel Typisches für die Liedkultur zwischen den Weltkriegen: Milieustudien ("Bei Fleutebachs es Huhzick hück"), Zeitgeschichte ("Wir fahren mit dem Zeppelin"), Albernheiten ("Do weiß et doch, ich ben kitzelich"), Heimatliebe ("Kölle, ming Heimat am herrliche Rhing") oder den Umgang mit der Krise in den 20er Jahren ("Mer wandern us, jonn op dr Mond").
Ebeler, sein Vetter Hubert, Ostermann und Berbuer, später Jupp Schmitz oder die verlässlichen Hitlieferanten Jupp Schlösser und Gerhard Jussenhoven waren auch Meister eines Genres, das im Laufe der vergangenen Jahrzehnte der Political Correctness zum Opfer fiel: Das gepflegte Trinklied war eine ganz besondere Spezialität der rheinischen Liedkultur. Die meisten Texte würde sich heute keiner mehr trauen zu singen. Man kann darüber stauen, aber auch viel Spaß daran haben.
Das Praktische an den Angeboten im Internet ist, dass sie einen mit immer neuen Empfehlungen in die Tiefen musikalischer Gattungen und zu weiteren Interpreten kölscher Unterhaltungsmusik führen können – und so findet man auch viele weitere Tipps für die Corona-Zeiten. Denen, die ihren Urlaub stornieren mussten, sei einmal mehr Berbuer empfohlen. Er dichtete 1936: „Wat dun mer am Lido, wat em Tiroler Land? Uns Riviera es am Rheinstrand. Wenn do et Sönnche fründlich laach, dann hammer de schönste Lenz. Dann hammer de allerschönste Dach.“