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Ukrainer in KölnAutistische Zwillinge fahren zu Special Olympics

Lesezeit 5 Minuten
Die Schwimmer Mykyta und Andriy aus Charkiw in der Schwimmhalle

Mykyta und Andriy aus Charkiw fahren von Köln zu den Special Olympics nach Berlin.

Andriy und Mykyta Karasychenko haben eine schwere autistische Störung. Die Flucht aus Charkiw hat die Zwillinge traumatisiert. Jetzt fahren sie zu den Special Olympics.

Struktur und Rituale sind für Andriy und Mykyta lebenswichtig. Ihre Tage müssen möglichst ähnlich ablaufen, damit sie sich nicht im Unbewussten verlieren und unkalkulierbare Ängste entwickeln. Die eineiigen Zwillinge habe eine schwere autistische Störung mit Intelligenzminderung, sie können nicht Radfahren oder Fußballspielen, weil sie die Gefahren im Verkehr nicht verstehen oder den Sinn des Passspiels. Sie können nicht gut schreiben, rechnen oder gewandt sprechen. Schwimmen können sie allerdings gut, sehr gut.

Dass Andriy und Mykyta jetzt, gut ein Jahr nach der Flucht aus einer bombardierten Stadt, Diskriminierung und Verzweiflung in einer beengten Flüchtlingsunterkunft, fünfmal pro Woche Schwimmtraining haben und mit ihrem Vater zu den Special Olympics nach Berlin fahren, ist vielleicht kein Wunder. Aber ein wunderbares Beispiel für den Willen einer Familie – und die Integrationskraft eines Kölner Vereins.

Die Zwillinge (16) sind auf dem Stand von sechs- bis achtjährigen Kindern

In Charkiw gingen Andriy und Mykyta, inzwischen 16, die auf dem Entwicklungsstand von sechs- bis achtjährigen Kindern stagnieren, morgens in die Schule und wurden mittags abgeholt. Am frühen Nachmittag hatten sie täglich Schwimmtraining. Er habe gelesen, dass der amerikanische Rekord-Olympiasieger Michael Phelps auch eine autistische Störung habe, sagt Vater Vadym Karasychenko. (Phelps hatte ADHS, Anmerkung, die Red.) „Viele Kinder mit den Beeinträchtigungen meiner Söhne lernen nie schwimmen. Eine Freundin von mir hat es ihnen beigebracht, als sie acht waren. Es klappte gut. Beide haben viel Kraft. Mykyta konnte mit neun 37 Klimmzüge.“

Das Schwimmen wurde für die Zwillinge zum Anker. Es gab feste Essens-, Dusch- und Schlafenszeiten, samstags fuhren sie zu ihrer Oma, sonntags machte die Familie einen Ausflug, jede Woche ging das so, „möglichst identisch jeden Tag“, sagt der Vater. Bis zum russischen Überfall am 24. Februar 2022.

„Wir haben im obersten Stockwerk eines Mehrfamilienhauses gewohnt, die russische Armee bombardierte Wohnhäuser, Schulen, Kindergärten, Bürogebäude. Ständig war Fliegeralarm, einen Bunker in der Nähe gab es nicht, fünf Tage haben wir im Keller verbracht“, erzählt Vadym Karasychenko. Am 6. März packte die Familie mit den Zwillingen, Mutter Daria und der kleinen Tochter Emilia ein paar Habseligkeiten in das Auto eines Unbekannten, der ihnen den Schlüssel mit den Worten gab, es wäre gut, wenn sie mit dem Wagen in den Westen fahren würden, und floh ins Ungewisse. Das eigene Auto war kurz zuvor mit einer Panne stehen geblieben, in einen der überfüllten Züge zu steigen, wäre mit den verängstigten Zwillingen nicht denkbar gewesen, sagt der Vater.

Wir haben zu fünft drei Monate auf zwölf Quadratmetern gelebt
Vater Vadym Karasychenko

Wie die meisten Geflüchteten aus der Ukraine, die nach Köln kamen, meldete sich die Familie am Hauptbahnhof. Er habe den Freiwilligen Unterlagen gezeigt, die die Behinderung seiner Söhne belegen und gebeten, das bei der Unterbringung zu berücksichtigen, erinnert sich Vadym Karasychenko. Sie seien dennoch in einer Sammelunterkunft gelandet. „Zu fünft auf zwölf Quadratmetern, für drei Monate.“

Die Zeit sei schwieriger gewesen als die Tage der Flucht aus Charkiw. Andriy und Mykyta, die aussehen wie normale Jugendliche, wollten mit kleinen Kindern spielten – wie sie es aus ihrem vertrauten Umfeld gewohnt waren. Sie wollten auf Spielplätze gehen. „Immer wieder haben sich andere Kinder über sie lustig gemacht, sie wurden ignoriert und schikaniert – ihr Trauma haben sie bis heute nicht überwunden.“

Als sie nach drei Monaten eine Wohnung in Kalk fanden, versuchten die Eltern, schnellstmöglich Rituale und Strukturen herzustellen, die dem Leben in Charkiw nahekamen. Der wichtigste Faktor war für die Zwillinge neben der Schule seit Jahren das Schwimmtraining gewesen. Der Vater schrieb Mails an mehr als 50 Schwimmvereine in Köln und Umgebung. „Nach drei Wochen Suche kam eine sehr nette Antwort vom Verein Kopfsprung“, sagt er. „Sie würden versuchen, mir zu helfen, Trainer zu finden, die mit Andriy und Mykyta trainieren können.“

Über das Training beim Verein Kopfsprung hat das Leben der Zwillinge Struktur gewonnen

Wenig später ging der Vater mit den Zwillingen zum Training. „Wir haben Andriy und Mykyta in eine normale Trainingsgruppe integriert. Sobald sie vom Block springen und schwimmen, läuft alles wie von selbst“, sagt Ilka Staub, Vorsitzende des Junkersdorfer Vereins.

„Ich danke Gott für Chrstian, Leon und Lucian – Trainer und wunderbare Menschen“, sagt der Vater heute. „Wir wurden mit Wärme und Freundlichkeit aufgenommen – alle Schwierigkeiten, die mit der Behinderung meiner Söhne verbunden sind, wurden mit Verständnis behandelt.“

Porträt von Schwimmer Andriy vor dem Startblock, im Hintergrund das Becken

Andriy startet bei den Special Olympics

Über das Schwimmtraining hat das Leben der Zwillinge wieder Struktur gewonnen. Von den Special Olympics, das weltweit größte Sportfest für Menschen mit geistigen Behinderungen, erfuhr der Vater über eine Werbetafel in Köln. Bei vorbereitenden Wettkämpfen hätten seine Söhne „bewundernswerte Leistungen“ gebracht.

Da die Ukraine nur eine bestimmte Anzahl an Athleten nominieren dürfe, bekamen die Zwillinge indes nur einen Startplatz. „Was eigentlich nicht möglich ist, weil Andriy und Mykyta alles zusammen machen und ohne einander niemals schwimmen gehen würden“, sagt der Vater. Alle Versuche des Vereins, einen zweiten Startplatz für Mykyta zu bekommen, scheiterten an der Bürokratie. Immerhin wurde der Vater nachträglich als Betreuer zugelassen – auch ihm war zunächst eine Akkreditierung verwehrt worden.

Vadym Karasychenko ist diese Woche trotzdem mit Andriy und Mykyta von Köln nach Berlin gereist. Wenn Andriy schwimmt, wird Mykyta, der seinem Bruder zum Verwechseln ähnlich sieht, zumindest am Beckenrand stehen.