AboAbonnieren

„Das Gefühl irre zu werden“Mit diesen Problemen wenden sich Jugendliche an Beratungen

Lesezeit 6 Minuten
nijwam-swargiary-oMnAKV902LA-unsplash

Einsamkeit, Langeweile, Zukunftsängste, selbstverletzendes Verhalten – während der Corona-Krise leiden viele Kinder und Jugendliche zusätzlich unter Kontaktsperren sowie Konflikten mit Eltern und Freunden.

  1. Viele Experten befürchteten während des Corona-Lockdowns eine Zunahme von Gewalt gegen Kinder und Frauen.
  2. Lange lieferten die Zahlen der Jugendämter ein diffuses Bild, da die Betroffenen nicht erreichbar waren. Nun aber bestätigt eine repräsentative Studie, dass es zu einer auffälligen Häufung von Gewalt gekommen ist.
  3. Wir haben mit Onlineberatungsstellen und einem Arzt gesprochen, die von Schlägen, Selbstverletzungen und Erschöpfung berichten.
  4. Und zeigen eine anonymisierte Liste der Themen, mit denen sich Jugendliche an die Beratungsstelle Jugendnotmail wenden.

Köln – Wie jeden Morgen in dieser schwierigen Zeit setzt sich Kathrin Weitzel um 6:15 Uhr an den Rechner und checkt ihre Mails. Im Posteingang findet sie einen Hilferuf der 13 Jahre alten Anna. Das Mädchen hat ihn mitten in der Nacht verfasst. Seit den Corona-Ferien gebe es zu Hause immer häufiger dicke Luft, schreibt sie an die Beraterin der Jugendnotmail. Die Eltern zofften sich im Homeoffice, würden den Frust immer häufiger an ihr und der achtjährigen Schwester auslassen. Ab und an rutschten Vater und Mutter auch mal die Hand aus. Aber das Schlimmste sei, dass sie wieder angefangen habe, sich die Arme aufzuritzen. „Ich kann nicht mehr“, schreibt sie und setzt einen weinenden Emoji dahinter.

Kathrin Weitzel, 34, ist Psychologin und erstellt normalerweise für Amtsgerichte psychologische Gutachten zum Thema Kindeswohlgefährdung. Seit 2014 arbeitet die Dortmunderin zusätzlich morgens und nach Feierabend ehrenamtlich als Beraterin bei der Jugendnotmail. Hier können Kinder und Jugendliche anonym per E-Mail von ihren Sorgen berichten. Nach Beginn des Lockdowns nahmen die Kontaktaufnahmen deutlich zu, seitdem ist Weitzel jeden Tag im Einsatz. „Es gibt eine explosive Mischung aus räumlicher Enge und einer grundlegenden Gereiztheit“, berichtet die Beraterin. „Hinzu kommen familiäre Probleme, die oft bereits im Hintergrund schwelten und jetzt zutage treten.“

Durch den Mangel an Alltagsstrukturen, Rückzugsräumen, aber auch durch wirtschaftliche Sorgen der Eltern seien Pulverfässer entstanden, die nun nach und nach hochgehen. Eine interne Analyse habe bestätigt, dass Jugendliche vermehrt von einer Zunahme verbaler und körperlicher Gewalt durch ihre Eltern berichten, sagt Weitzel. Einige davon seien noch nie zuvor geschlagen worden. „Bei uns ist Gewalt derzeit eines der großen Themen.“

Mehr Gewalt bei Quarantäne und finanziellen Sorgen

Kurz nach den Schulschließungen Mitte März warnten Experten vor einer Welle von häuslicher Gewalt. Die Zahlen zeichneten zunächst ein diffuses Bild. In einer Abfrage von mehreren Jugendämtern der Region berichten Mitarbeiter von gleichbleibenden Meldungen über Kindeswohlgefährdung (Kürten, Odenthal und Burscheid) im Vergleich zum Vorjahr oder gar einem Rückgang (Brühl). In den Polizeipräsidien des Landes gingen im März 2020 etwa ein Viertel weniger Anzeigen wegen häuslicher Gewalt ein als im März 2019. Das geht aus einer Kleinen Anfrage der SPD vom 20. Mai hervor.

Nun kam eine repräsentative Umfrage der Technischen Universität München zu dem Ergebnis, dass es während der Corona-Quarantäne zu einer auffälligen Häufung von Gewalt gegen Frauen und Kindern kam. In 10,5 Prozent der Fälle erlitten Kinder Gewalt, wenn die Familie unter Quarantäne stand. Auch in Familien, die unter finanziellen Sorgen während der Krise litten, wurde fast jedes zehnte Kind Opfer von körperlicher Gewalt. In Familien, in denen ein Elternteil an Depressionen oder Angststörungen erkrankt war, wurde fast jedes sechste Kind zum Gewaltopfer.

Das könnte Sie auch interessieren:

Ein ähnliches Bild zeichnen Hotlines und Onlineberatungsstellen für Kinder und Jugendliche. Jugendnotmail spricht von einem Anstieg des Beratungsaufkommens um 40 Prozent, man suche händeringend nach zusätzlichen Beratern, um den Ansturm zu bewältigen. Auch die „Nummer gegen Kummer“ des Kinderschutzbundes ist nach eigenen Angaben mit einem Anstieg von etwa 30 Prozent gefragter denn je. Die Jugendlichen, die sich melden, seien im Kern zwischen zwölf und 16 Jahre alt, sagt Beraterin Weitzel. Manche würden sich seitenweise ihren Frust von der Seele schreiben, von Schlägen durch die Eltern, von Einsamkeit, Ängsten, vom Rückfall in die Magersucht, von selbstverletzendem Verhalten. Manche seien so erschöpft, dass sie oftmals nur einen einzigen Satz zustande brächten. „Ich weine den ganzen Tag“, hatte ihr ein Mädchen kürzlich geschrieben.

Für die Diskrepanz der Zahlen könne es eine Erklärung geben, sagt Kinderarzt Oliver Berthold. Mit der Schließung von Schulen und Kitas seien auch die sozialen Frühwarnsysteme abhandengekommen. Vor der Corona-Zeit waren es hauptsächlich Schulsozialarbeiter, Lehrer und Kitabetreuer, die auf blaue Flecken oder Striemen reagieren und die behördliche Meldekette auslösen konnten. Nun seien die Kinder weitestgehend auf sich allein gestellt.

Berthold, Kinderarzt in der Kinderschutzambulanz der Berliner DRK-Kliniken, leitet das Team der 2017 gegründeten Kindernothotline, an die sich alle medizinischen Fachkräfte bundesweit rund um die Uhr wenden können. Die Zahl der Anrufe sei in den Monaten März und April zunächst gesunken, seit Mai aber gebe es nun wieder einen Anstieg. Die Berichte der Kollegen am Telefon passten zu dem, was Berthold selbst in der Ambulanz erlebt. Das ganze Gewaltspektrum sei abgedeckt, von der Ohrfeige bis hin zu Knochenbrüchen, Schädelhirnverletzungen, Verbrennungen, Verbrühungen, Schlägen mit dem Gürtel.

Der Mediziner warnt davor, Gewalt an Kindern sozialen Milieus zuzuschreiben. Geschlagen wird demnach überall, im Akademikerhaushalt genauso wie im sozialen Brennpunkt. Es sei mittlerweile wissenschaftlich erforscht, dass es einen Zusammenhang zwischen großen gesellschaftlichen Krisen und der Zunahme von Gewalt an Kindern gibt, sagt Berthold. Studien zu den Auswirkungen des Reaktorunglücks in Fukushima oder der Wirtschaftskrise 2008 hätten gezeigt, dass Erwachsene in schweren existenziellen Nöten häufiger ihre Kinder schlagen. Corona sei allerdings eine Krise in verschärfter Form. Zu den wirtschaftlichen Sorgen seien die räumliche Enge und die verordnete soziale Abschottung dazu gekommen. „Das Stressniveau ist enorm gestiegen und damit auch die Zahl der Konflikte“, sagt Berthold und wagt eine Prognose: Manche Familie werde mit den negativen Effekten dieser Zeit noch jahrelang zu kämpfen haben.

Kontakt über Messengerdienste und Spaziergänge

Einige dieser Fälle könnten irgendwann bei Anna-Denise Leuthold landen. Die Therapeutin sitzt im Konferenzraum des Kinderschutzzentrums im Kölner Stadtteil Bayenthal. Leuthold arbeitet bei der Familienberatung und bei der Fachstelle für Gewalt und Missbrauch des Kinderschutzbundes. Sie kann sich gut erinnern an den Tag des Lockdowns. „Wir waren verunsichert und sehr besorgt“, sagt sie. „Wird die Lage jetzt eskalieren?“ Vor allem hatte sie befürchtet, dass die Verbindung zu ihren Klienten wegen des wochenlangen Kontaktverbots ganz abbrechen könnte.

Um den Kommunikationskollaps zu verhindern, stellte das Team die Arbeitsroutinen um. Leuthold schickte Nachrichten über Messengerdienste, machte mit Eltern und Kindern Spaziergänge. „Es war wichtig zu zeigen, dass wir auch in dieser Zeit da sind.“ Eigentlich habe es niemanden gegeben, der abgetaucht sei. Obschon einige Elternteile Corona genutzt hätten, um dem Ex-Partner den Umgang mit dem Kind zu verweigern, habe Leuthold auch positive Entwicklungen feststellen können. Die Krise habe einige Familien stärker gemacht, sie dazu genötigt, besser miteinander umzugehen. Eine Mutter habe ihr erzählt, dass ihr Kind bei der Übergabe an den Vater erstmals seit langer Zeit wieder entspannt gewesen sei. „Das ist doch toll“, habe Leuthold geantwortet. „Für das Kind war das ein wichtiges Erlebnis.“

Wie viele Experten glaubt auch Leuthold, dass mit den Lockerungen und der Wiedereröffnung von Schulen und Kitas auch die Zahl der Meldungen bei den Jugendämtern ansteigen wird. Die Behörden hätten dem Kölner Kinderschutzzentrum schon neue Fälle zugewiesen.

Mit diesen Problemen wenden sich Jugendliche an die Jugendnotmail

Jugendliche berichten von

  1. einer Zunahme an verbalen und körperlichen Aggressionen durch ein Elternteil, seit dieses aufgrund von Corona im Home-Office arbeitet. Dem Gefühl, diesem Elternteil nun komplett ausgeliefert zu sein.
  2. einem Verlust an Sicherheit und Rückhalt durch ihren Freundeskreis aufgrund von Corona
  3. einer Zunahme verbaler Aggressionen durch ihre Eltern seit der Corona-Krise.
  4. einer starken Zunahme an Panikattacken u.a. aus Angst vor der eigenen Mutter, seit die Ausgangsbeschränkungen Geltung haben.
  5. einer Zunahme an selbstverletzendem und anorektischem Verhalten seit Beginn des Homeschoolings.
  6. dem Verlust der Option, den verbalen Aggressionen eines Elternteils durch Hobbys zu entgehen sowie dem Verlust an Halt durch einen Partner, dessen Eltern ihm coronabedingt verboten haben, die Ratsuchende zu sehen.
  7. dem Gefühl, durch die mangelnde Struktur im Alltag „verrückt“ zu werden und vom verzweifelten Gefühl, selber eine Struktur aufzubauen. 
  8. von großen Unsicherheiten und Zukunftsängsten aufgrund der Krisensituation.
  9. von einer Zunahme an herabschätzenden Blicken, wenn man das Haus verlässt, und den daraus entstehenden Schuldgefühlen.
  10. dem Gefühl, dass es mit den eigenen psychischen Problemen wieder „bergab“ geht aufgrund der fehlenden Routine im Alltag.
  11. alleine einen Umzug bewältigen zu müssen, da aufgrund von Corona niemand helfen kann/will.
  12. vom Durchkreuzen von Zukunftsplänen (Auslandsaufenthalt) aufgrund von Corona.
  13. einer Zunahme von Gefühlen des Alleinseins, der Verlassenheit und des Kontrollverlusts aufgrund der Ausgangsbeschränkungen.
  14. einem verstärkten Gefühl, nirgendwo dazuzugehören.
  15. einem Verlust von Halt und Sicherheit, die das Betreiben eines Hobbys mit anderen geboten hat.
  16. einer Zunahme an Reizbarkeit, Schwermut und Konflikten innerhalb der Familie aufgrund von Corona.
  17. eine Zunahme an depressiven Symptomen und selbstverletzendem Verhalten, weil man keine Freunde, die einen gestützt haben, persönlich mehr treffen darf
  18. das Ausfallen von Jugendgruppen in der Corona-Zeit wird als belastend erlebt, da der soziale Anschluss verloren geht
  19. ein Fehlen der Freunde als der wichtigsten emotionalen Stütze
  20. eine Zunahme an Medikamenten-Missbrauch (Schlaftabletten) um die Einsamkeit dieser Tage nicht aushalten zu müssen
  21. eine Zunahme an Depressionen in der Corona-Zeit, insbesondere da selbstabwertende Gedanken über den eigenen Körper und einer gefühlten, inneren Leere vermehrt auftreten
  22. eine Zunahme an Depressionen und schwerem, selbstverletzendem Verhalten, weil Kinder- und Jugendpsychotherapeuten nicht mehr im gewohnten Umfang verfügbar sind
  23. während der „Corona-Ferien“ den eigenen Eltern zuhause nicht entgehen zu können und Streit aushalten zu müssen
  24. ein Verlust der Schule als Rückzugsort und als Tagesstruktur-Geber
  25. eine Zunahme an Angstgedanken und negativen Gedankenschleifen (z.B. über den Tod) im Allgemeinen
  26. ein Verlust an freundschaftlicher, körperlicher Nähe wie Umarmungen, „Knuddeln“, etc.
  27. einer Zunahme an Langeweile
  28. eine Zunahme an körperlicher Gewalt durch den eigenen Vater, da die Mutter in Quarantäne musste, in Folge verstärkte Suizid-Gedanken
  29. aufgrund von Corona nicht in eine psychiatrische Tagesklinik aufgenommen zu werden
  30. einer stärkeren Tendenz, belastende Gedanken vor den eigenen Freunden zu verbergen, da dies über bloßen Messenger-Kontakt einfacher ist
  31. einer Zunahme an Suizidgedanken und gestörtem Essverhalten
  32. eine Zunahme an reinen Suizidgedanken
  33. eine Zunahme von Reizbarkeit in der gesamten Familie durch das „Aufeinanderhocken“, ständiges streiten
  34. sich aufgrund des Ausnahmezustands nicht mit unangenehmen Themen konfrontieren und sich vor ihnen verstecken
  35. kein Desinfektionsmittel zur Versorgung von selbstzugefügten Wunden zu haben
  36. das Gefühl „irre“ zu werden in der Situation