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Mensch-ärger-Dich-nicht in DauerschleifeEindrücke aus dem Familienlockdown

Lesezeit 8 Minuten
Corona Selbsttest

Symbolbild

Köln – In der Kita unserer jüngsten Tochter wurden diese Woche PCR-Tests durchgeführt, ein Kind aus der Gruppe war positiv getestet worden. „Ist mein fünfter oder sechster Test“, sagte meine Tochter und schüttelte sich nur kurz, als die nette Frau mit dem grünen Schutzkittel ihr mit dem Stäbchen im Rachen herumstocherte. „Du hast ja fast am gleichen Tag Geburtstag wie ich!“, sagte die Frau. „Hast Du auch nicht gefeiert?“, fragte meine Tochter. Die Frau lachte. „Das holen wir alles nach, oder?“, fragte sie. „Wann, weiß man aber noch nicht“, sagte meine Tochter. Die ersten Kinder aus ihrer Kita müssen inzwischen zwei Kindergeburtstage nachholen.

Warten auf die Quarantäne-Entscheidung

Weil es vor einigen Tagen einen zweiten Fall in der Kita gab, britische Mutante!, entscheide das Gesundheitsamt „irgendwann, hoffentlich aber bald, ob auch alle Eltern in Quarantäne müssen“, sagte der umsichtige Kita-Leiter, der schon vor Monaten Schnelltests für das Team besorgt hatte, achselzuckend. Bis jetzt warten wir auf die Entscheidung – und gehen vorerst nicht in Quarantäne. Wir sind keine Erstkontakte. Treffen uns nicht, schnelltesten uns alle paar Tage und warten ab wie die Wanze an der Fensterscheibe meines Arbeitszimmers, bis es irgendwann warm wird. Die deutsche Fußballnationalmannschaft darf am Abend zum Glück spielen, trotz positiven Corona-Tests. Ach, wie gut, dass die Kicker helfen, dass wir uns ein wenig zerstreuen. Blöd nur, dass unsere Älteste GNTM gucken will.

Mensch-ärger-Dich-nicht, Partie 1743

Zwischen Redaktionskonferenzen und Telefonaten spiele ich mit meiner Tochter Mensch-ärgere-dich-nicht. Wir sind bei Partie 1743 oder so und spielen jetzt auch mit Varianten wie rückwärtsgehen oder blind ziehen. Sie ärgert sich längst nicht mehr, nie. Meine Tochter spielt am liebsten auf dem Boden, ich muss da aufpassen – die Schultern sind überstrapaziert, was auch an den Youtube-Übungen von Pamela Reif, Medy Morrison und Co. liegt, die eher für 13- bis 25-Jährige gedacht sind.

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Meine Töchter finden sie aber besser als die Pilates-Übungen, die ich inzwischen bevorzuge. Dass mir davor Werbung eingeblendet wird, bei der eine rüstige 91-Jährige ihre Gesundheitsschuhe vorstellt, ist mir wurscht. Die Algorithmen halten mich inzwischen für eine alte Frau, das finde ich okay.

Tests in Schulen am Tag vor den Ferien

Meine Frau ist wieder in der Schule. Das größte Thema ist dort gerade, wie das Kollegium die Schnelltests bei den Schülern durchzuführen und zu dokumentieren hat – und wie die positiv Getesteten gegebenenfalls vom Schulgelände zu evakuieren sind. Einige wollen die Tests nicht machen, ein Teil der Schüler lässt sich nicht testen. Der Philologenverband kritisiert das Konzept scharf. Es geht hier auch um Datenschutz und wie immer darum, wie das Chaos organisiert werden soll. Mit Lehrern, die Tests durchführen und womöglich positiv getestete Kinder stigmatisieren, vielleicht eher nicht so gut. An der Schule meiner Frau werden die Tests übrigens am Donnerstag und Freitag vor den Ferien durchgeführt.

Themen wie diese führen dazu, dass Menschen wie der Lehrer und Youtuber Gunnar Kaiser gerade regen Zulauf haben. Kaiser hat einen „Appell für freie Debattenräume“ ins Leben gerufen, den auch bekanntere Leute wie der Publizist Harald Martenstein, die Schriftstellerin Monika Maron, der Schriftsteller Uwe Tellkamp, der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer oder der Komödiant Dieter Nuhr unterzeichnet haben. Kaiser glaubt, dass die freiheitliche Gesellschaft stark gefährdet sei und befürchtet, dass Deutschland sich in Richtung autoritärer Überwachungsstaat entwickele. Er hält viele der Grundrechtseinschränkungen für unangemessen – das finden inzwischen viele Menschen.

Likes und Streams wichtiger als Anstand

Wie manche der Menschen, die seinen Appell unterzeichneten, fällt Kaiser hin und wieder damit auf, dass sein Sendungsbewusstsein derart stark ist, dass Likes und Streams ihm wichtiger zu sein scheinen als Grundsätze der Verfassung und des Anstands.

Kürzlich fragte der Mann, der Lehrer an einem Gymnasium in NRW ist, ob ältere Menschen, „die klaglos hinnehmen, dass ‚in ihrem Namen‘ und ‚zu ihrem Schutz‘ Kinder und Jugendliche in Angst und Schrecken versetzt werden, sie Störungen und Neurosen entwickeln, unter Isolation und Einsamkeit so sehr leiden, dass unter ihnen die Suizidrate signifikant steigt, sie seit beinahe einem Jahr nur noch einen billigen Abklatsch von Bildung bekommen, nicht mehr unbeschwert spielen und ihren Hobbys nachgehen können, sie zu Hause vernachlässigt werden, auch kleine Kinder acht Stunden am Tag im Sommer Masken tragen mussten und eine ganze jüngere Generation für die zukünftigen Schulden und gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgeschäden wird bürgen und aufkommen müssen …“, ob diese ältere Menschen, „die das hinnehmen und freudig akzeptieren für ein paar eigene Lebensjahre mehr, diese Lebensjahre dann verdient“ hätten? Also, Hand aufs Herz: Haben die Alten noch ein paar Jahre Leben verdient? Der Lehrer erhielt für seinen Beitrag enorm viele Likes.

Warum Künstler FDP wählen wollen

Eine Künstlerin sagte mir neulich am Telefon, dass einige befreundete Kölner Künstler ernsthaft überlegten, bei der Bundestagswahl die FDP zu wählen. „Irgendetwas kippt gerade“, sagte sie. Wenn eigentlich doch eher linke Künstler überlegen, FDP zu wählen, weil die FDP offensiver als andere für Freiheitsrechte und Lockerungen der Maßnahmen eintritt, spricht manches dafür. Künstler und FDP, das klingt ungefähr so wie Let’s Dance und Peter Altmaier, wo sich allwöchentlich so coronalosgelöst angefasst wird wie beim Spring Break.

Sport via Stream, die Nationalelf spielt trotz Corona-Fall

Ballett fand vergangene Woche das erste Mal seit vier Monaten wieder vor Ort statt, mit vier Kindern, die medizinische Masken trugen. Es war bis auf weiteres auch das letzte Mal. Hip Hop, Turnen und Musikunterricht via Stream macht keinen Spaß, sagen die Kinder, machen aber trotzdem mit. Auch das Fußballtraining der Bambinis fand das erste Mal wieder statt. Individualtraining auf Abstand. Nächste Woche könnte wieder Schluss sein. Aber gut, dass die Nationalelf spielt.

An der Schule meiner ältesten Tochter wurden am Dienstag einmalig alle Schülerinnen und Schüler schnellgetestet, in der Grundschule meiner zweiten Tochter gibt es keine Tests, aber Aufregung um eine Klassenarbeit. Viele Kinder haben einen Bericht in Deutsch so unzureichend geschrieben, dass sich die Arbeit nicht bewerten lasse. Die empathische Klassenlehrerin entschuldigte sich per Mail für die Situation und erklärte, warum es keine Noten für die Arbeit gebe. Meine Tochter fand das okay, versteht aber nicht so ganz, warum überhaupt Klassenarbeiten geschrieben werden. In der Pause darf sie auf dem Schulhof keine Brote essen, weil: da gilt Maskenpflicht. Essen dürfen die Kinder nach der Pause im Klassenraum. Von solchen unterwältigenden Beispielen gibt es deutlich zu viele.

Die Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseinschränkungen lässt sich nicht mehr so diskutieren wie vor einem Jahr. Das sollte verhandelt werden, gern auch lauter. Leider legen Menschen wie Gunnar Kaiser ihre Finger derart in Wunden, dass sie dabei die Würde von Menschen verletzen. Mit Polemiken lassen sich mehr Menschen erreichen als mit abwägenden Argumenten. Und wenn das politische Abwägen weiterhin vornehmlich über Zahlen wie 50 oder 35 oder 100 Infektionen pro 100 000 Einwohner definiert wird, steigert das nicht die Akzeptanz von abwägenden Argumenten. Schade, dass die Polemik als Mittel so beliebt ist, aber vielleicht liegt der Grund ihrer Stärke auch in der Schwäche der Konzepte und .Taten. Siehe Impfen. Siehe Schnelltests.

Gibt es Denkzettel bei der Bundestagswahl?

„Mir fehlen die Worte, da ist so eine riesige Ohnmacht“, sagte die Künstlerin am Telefon. „Eigentlich bräuchte es jetzt Mal einen riesen Wumms, aber von den Künstlern ist gerade jeder mit sich selbst beschäftigt. Die sind es gewöhnt, sich für Schwächere einzusetzen, aber nicht für sich.“ Vielleicht kommt der Wumms ja, weil Kulturschaffende, Gastronomen, Hoteliers und enttäuschte Eltern FDP und schlechterdings sogar der AfD zu ungeahnten Wahlergebnissen verhelfen. Unmöglich erscheint das gerade nicht.

Was dürfen wir denn nächste Woche und was nicht?, fragte meine zehnjährige Tochter vorgestern beim Abendessen. Ich konnte es ihr nicht genau sagen. Die Sechsjährige jubelte beim Frühstück nach einer Mail aus der Kita: „Juchu, Papa, ich bin negativ! Negativ!“ Raus darf sie natürlich trotzdem nicht.

Unseren Töchtern geht es ziemlich gut. Die älteste kocht und tanzt viel. Die mittlere kümmert sich um die kleine, wenn die Eltern wie fast immer keine Zeit haben. Manchmal bin ich fast erschrocken, wie flexibel die Kinder sind, solange Mama und Papa sich nicht streiten. Wie sie es schaffen, zu akzeptieren, dass schon im Februar die Abschlussfahrt der Grundschule für Juli abgesagt wurde, sie Geburtstage nicht feiern, wieder mal nicht bei einer Freundin übernachten dürfen und nicht draußen mit anderen Kindern spielen, weil sie sich zwar sehr gesund fühlen und negativ getestet sind, aber in Quarantäne sind und das – wegen der britischen Variante? – zwei Wochen lang. Dass unsere Kinder so gelassen sind, liegt bestimmt auch daran, dass wir privilegiert sind: keine Verdienstausfälle, Wald vor der Haustür. Viele Kinder haben keinen Bock mehr auf Schule. Erstklässler sind noch gar nicht in der Schule angekommen, Abiturientinnen machen Motto-Wochen auf Abstand.

Die Freundin, die in Tränen ausbrach

Die Jugend ist unterm Strich aber nicht nur am stärksten eingeschränkt sondern auch am flexibelsten: Viele Eltern sagen momentan, es gehe ihnen gut oder okay, man brauche ja nur nach rechts und links zu gucken. Sie sehen aber nicht so aus. Und, siehe da: Heute Morgen brach eine befreundete Mutter vor unserer Haustür in Tränen aus. Ich würde so gern einfach eine Party feiern und irgendjemanden in die Fresse schlagen, sagte sie.

Der Sommerurlaub ist gebucht. Vorläufig.

Irgendwie kippt es gerade. Aber es gibt zwei Richtungen. Die Kinder freuen sich wie Bolle darauf, bald Oma und Opa wiederzusehen – und sie spätestens in der Woche nach Ostern das erste Mal nach mehr als einem Jahr wieder zu umarmen. Alle vier Großeltern werden dann geimpft sein. Dass der Osterurlaub ausfällt, ist kein Thema mehr. „Aber in Sommerurlaub fahren wir doch?“, fragte die Sechsjährige gestern. Ist gebucht!, haben wir gesagt. Dass das nichts heißt, ahnt sie natürlich längst.