Herr Baum, Ihre erste Corona-Impfung haben Sie hinter sich. Wie fühlt sich’s an?Gerhart Baum: Ich fühle mich als 88-Jähriger auf dem Weg zu mehr Sicherheit. Ich möchte keine Privilegien in Anspruch nehmen. Sollte ich aber für andere kein Risiko mehr sein, dann stehen mir wieder mehr Freiheitsrechte zu. Und das sind keine Privilegien. Wenn ich mich aber weiterhin solidarisch verhalte mit den noch nicht Geimpften, so ist das meine Entscheidung.
Die Politik hat vorige Woche erste Öffnungen beschlossen. Wie stehen Sie dazu?
Das sind Kompromiss-Entscheidungen. Es ist eine Gratwanderung. Die Politik ist hin und her gerissen zwischen der Furcht vor einer dritten Welle und der Sorge vor nachhaltigen Schäden. Unser Gegner ist nicht die Politik, sondern das Virus. Aber die Politik vermittelt der frustrierten Öffentlichkeit nicht ausreichend, warum sie bestimmte Prioritäten setzt. Beispiel: Warum bleiben die Kölner Spielstätten – etwa Philharmonie, Theater, Stadtgarten, Kinos und andere – weiter geschlossen, auch dann, wenn sie hervorragende Schutzkonzepte entwickelt haben? Die Politik setzt strikt auf Begegnungsverbote. Ich habe Zweifel, ob man so weit gehen muss. Vor allem, wenn an anderer Stelle die Begegnungsverbote nicht eingehalten werden können.
Nun werden ja in Köln die Museen geöffnet.
Das ist ein Lichtblick. Ich sehe aber noch ein weiteres Dilemma, das Kritikern und Verschwörungstheoretikern immer wieder Nahrung gibt: Die Politik muss mehr deutlich machen, dass durch den Lockdown tagtäglich Leben gerettet werden. Die abstrakten Zahlen, die uns täglich mitgeteilt werden, lassen das nicht erkennen. Auch der Ladenbesitzer an der Ecke oder der freischaffende Künstler sollte das Gefühl haben: Mein Opfer ist nicht umsonst gewesen.
Der Verfassungsschutz will die AfD als Beobachtungsfall einstufen. Wie sehen Sie diese Entscheidung?
Auch wenn es jetzt nicht glücklich gelaufen ist, halte ich die Entscheidung für richtig und kann nur hoffen, dass sie sich dann auch als gerichtsfest erweist. Entscheidend ist aber doch unser politisches Urteil: Der Rechtsextremismus, wie er sich auch in der AfD verkörpert, ist die größte Bedrohung unserer Demokratie seit langem. Diese Truppe stellt unser „System“ mit frei gewählten Parlamenten, mit einem kritischen Journalismus und einer auf Toleranz basierenden Gesellschaft in Frage. Sie verfolgt ein rassistisches Konzept der ethnisch exklusiven „Volksgemeinschaft“. Das ist kein harmloser Club konservativer Protestwähler. Die Rechten bedienen sich der Instrumente der Demokratie, um diese zu bekämpfen. Und das Gift breitet sich in der bürgerlichen Mitte aus, wie die Sicherheitsbehörden feststellen. Auch wenn die AfD kriselt, der Spuk ist nicht vorüber.
Wie tritt man diesem – wie Sie sagen – Spuk entgegen?
Wir müssen unsere Demokratie überzeugend leben. Das bedeutet, jeder Einzelne ist in seiner Verantwortung gefordert. Politik muss Vertrauen bilden und auch den wachsenden Orientierungsbedürfnissen der Menschen nachkommen, deren Verhalten oft von Angst und Unsicherheit bestimmt ist. Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen sich ausgegrenzt fühlen. Diese gefährliche Situation behandle ich auch in meinem neuen Buch …
… das nächste Woche erscheint. Sie schildern darin auch das Verhältnis zu Ihrer Partei und sprechen von einer „komplizierten Beziehung“. Wie ist aktuell der Beziehungsstatus?
Mehr als 70 Jahre Mitglied einer Partei zu sein, ist eine lange Zeit, geprägt auch von persönlichen Erfolgen und Niederlagen. Ich beschreibe das im Einzelnen. Die FDP hat jetzt in der Coronakrise als kritische Mahnerin Tritt gefasst. Das finde ich richtig. Aber das gibt noch keine Auskunft darüber, welche liberalen Zukunftsperspektiven die Partei leiten. Da muss sie deutlicher werden. Das Potenzial dazu hat sie. Es muss doch möglich sein, mehr liberal gesinnte Menschen im Lande wieder stärker an sich zu binden – auch in Köln.
Welche Zielvorstellungen sollen denn aus Ihrer Sicht die Liberalen leiten?
Ich nenne ein Beispiel: Im neuen Grünen-Grundsatzprogramm ist die Rede von Nachhaltigkeit, Ökologie, Selbstbestimmung, Demokratie und Frieden als tragenden Werten grüner Politik. Dagegen ist nichts zu sagen. Es fehlt aber das Bekenntnis zur Freiheit als bestimmendem Leitmotiv. Für Liberale ist sie es: Im Zweifel für die Freiheit. Ich fordere einen von Solidarität geprägten „sozialen“ oder, anders genannt, „empathischen Liberalismus“, der auch an der früheren Tradition der FDP als Umweltpartei anknüpft. Ich war als Innenminister ja auch Umweltminister.
Und dann bildet die „Umweltpartei“ FDP demnächst in einer Koalition mit den Grünen ein schönes Amalgam?
Das könnte sein. Aber ich rate dazu, keine Option auszuschließen, auch wenn die SPD in ihrer außenpolitischen Verantwortung wankend geworden ist. Armin Laschet sollte Kanzlerkandidat der Union werden. Er hat die Sensibilität für eine solidarische Gesellschaft, und er ist ein überzeugter Europäer. NRW wird gut regiert – ich sage das auch als aktiver Kulturpolitiker hier im Land. Warum sollte man diese bewährte Kombination nicht auf die Bundesebene übertragen – gemeinsam mit den Grünen? Das ist eine der möglichen Optionen.