AboAbonnieren

Interview

Mentale Gesundheit
„In jeder Klasse sitzen fünf oder sechs Schüler mit psychischen Problemen“

Lesezeit 5 Minuten
Judith Ternes vom Vorstand der Bezirksschülervertretung Köln

Judith Ternes, Vorstand der Bezirksschülervertretung Köln

Judith Ternes vom Vorstand der Kölner Bezirksschülervertretung erläutert, warum immer mehr Schüler unter Ängsten und Depressionen leiden und warum sie sich von der Politik im Stich gelassen fühlen.

Ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler zwischen acht und 17 Jahren nimmt an sich selbst psychische Auffälligkeiten wahr. Das hat das aktuelle Deutsche Schulbarometer der Robert-Bosch-Stiftung ergeben. 71 Prozent sorgen sich um Kriege in der Welt und ums Klima. Knapp 60 Prozent gaben Leistungsdruck als Belastungsfaktor an.

Frau Ternes, haben Sie die Ergebnisse des Schülerbarometers überrascht?

Judith Ternes: Nein, überhaupt nicht. Ich brauche mich nur umzusehen: In jedem beliebigen Kurs, in dem 30 Schülerinnen und Schüler sitzen, kann ich fünf bis sechs sehen, die psychisch stark belastet ist.

Mit welchen psychischen Problemen kämpfen die?

Vor allem mit Stress auf vielen Ebenen. Immer weniger Leute haben Hausaufgaben dabei, weil die viel zu viel werden. Man merkt, dass viele nicht mehr mitkommen. Immer mehr schwänzen aus Überforderung die Schule. Viele spüren einen ungeheuren Leistungsdruck. Vor allem in den unteren Klassen wächst die Zahl der Jugendlichen, bei denen eine ambulante therapeutische Behandlung nicht ausreicht. Sie gehen in eine psychiatrische Klinik. Meist geht es um Depressionen.

Nun gab es Leistungsdruck in der Schule ja eigentlich immer. Was ist Ihrer Meinung nach anders als vor zehn Jahren?

Ich glaube, da sind massive Sorgen um die Zukunft dazugekommen: Kriege, das Klima, die Sorge, dass die Demokratie zusammenbricht. Da gibt es gerade enorm viele Ängste. Man fragt sich, wie sieht meine Zukunft aus und sieht nirgendwo was Ermutigendes. Es hat eben nicht jeder jemanden, um sich auszutauschen. Viele fressen das in sich rein und dadurch entstehen noch viel mehr Depressionen und Druck.

„Es müsste Stunden geben, in denen man diese drängenden Themen behandelt“

Haben Sie das Gefühl, dass Schule in der Lage ist, diese Sorgen aufzufangen oder zu thematisieren?

Grundsätzlich nein. Die Lerninhalte sind darauf nicht ausgelegt. Eigentlich müsste es Stunden geben, in denen man diese drängenden Themen behandelt. Aber das geht unter in dem ganzen Leistungsdruck mit den übervollen Lehrplänen und dem engen Takt. Immer steht die nächste Klausur an.

Was würden Schülerinnen und Schüler sich wünschen?

Es müsste fest im Stundenplan Klassenleiterstunden geben, in denen man über diese Probleme sprechen kann. Auch ein Ruheraum in der Schule wäre super. Und es bräuchte psychologisch geschulte Ansprechpartner in jeder Schule.

Wie schätzen Sie den Einfluss von Social Media auf die psychische Gesundheit ein?

Der Einfluss ist riesig. Einfach, weil man sich dadurch noch viel mehr Druck macht. Die ganze Zeit vergleicht man sich mit anderen und hat auch viel mehr Einblick in andere Leben. Der Effekt ist, dass man sich schwerer mit dem eigenen Leben tut. Immer sieht man andere, die es besser machen oder schöner aussehen. Dadurch wird es immer schwerer mit sich und der eigenen Leistung zufrieden zu sein.

„Empowerment wäre so wichtig“

Sich selbst annehmen lernen und außerdem Resilienz – also psychische Widerstandskraft – aufzubauen steht auf keinem Lehrplan. Wie könnte Schule unterstützen, das einzuüben?

Empowerment wäre so wichtig. Dass man den Schülern vermittelt, dass sie gut sind, so wie sie sind. Aber das wird komplett vernachlässigt. Das Geld für Schulsozialarbeit oder Schulpsychologen fehlt. Dabei bringen schon Workshops zu mentaler Gesundheit gerade als Prävention unglaublich viel.

Weil es beim Thema mentale Gesundheit brennt, hat die Kölner Bezirksschülervertretung das selbst in die Hand genommen und das beharrlich auf die politische Agenda gebracht…

Wir haben gesehen, dass trotz der riesigen Probleme nichts passiert. Die Stadt hat immer wieder versprochen Projekte durchzusetzen. Aber das dauerte wegen der ganzen Bürokratie viel zu lange. Da haben wir der Stadt angeboten, das einfach selbst zu übernehmen.

Ihr habt das dann tatsächlich geschafft. Die Stadt hat euch in diesem Jahr 50.000 Euro für Workshops zur mentalen Gesundheit zur Verfügung gestellt. Wie ist das gelaufen?

Super. Schulen oder Schülervertretungen konnten sich niedrigschwellig bei uns melden per Whatsapp. Wir haben diese mit Kooperationspartnern wie „Kopfsachen e.V.“ oder „Verrückt na und?!“ verbunden. Dann hat der Workshop auch direkt stattgefunden. Der Haken: Wir hatten 90 Anfragen von Schulen und konnten nur 50 bewilligen. 40 mussten wir ablehnen, weil das Geld für mehr nicht gereicht hat.

1 Euro pro Kind könnte Workshops für alle Schulen ermöglichen

Im Haushalt für 2025 ist das Budget für mentale Gesundheit gar nicht mehr drin. Er wurde rausgespart…

Wir hoffen, dass der Stadtrat das noch ändert. Um für alle 300 Schulen einen Workshop anbieten zu können, bräuchte es einen Betrag von 1 Euro für jeden Kölner Schüler. Das kann doch nicht zu viel sein. Das Feedback ist so positiv: Die Schüler lernen, was Selbstfürsorge ist, sie lernen Konflikte zu lösen, wie man auf seine mentale Gesundheit achtet und wo man sich Hilfe holt. Das ist wichtige Prävention. Dafür werden wir weiterkämpfen.

Fühlen Sie sich eigentlich von der Politik im Stich gelassen?

Es ist einfach nicht richtig, dass Schüler das für Schüler erstreiten müssen. Auch vom Land NRW kommt da zu dem Thema gar nichts. Ja, manchmal fühlt man sich als junger Mensch von der Politik verlassen. Kinder und Jugendliche fallen immer runter. Man fragt sich, ob die Zukunft von uns denen nicht am Herzen liegt. Wenn das Thema mentale Gesundheit nicht angepackt wird, haben wir bald nicht mehr nur sechs Schüler pro Klasse mit psychischen Problemen, sondern über die Hälfte. Und irgendwann dann alle.