Sozialwissenschaftler Fabian Virchow spricht über die Folgen für die Betroffenen, die jahrelang selbst unter Verdacht standen.
20 Jahre Attentat Keupstraße„Ob wir auf neue Anschläge besser vorbereitet sind, da habe ich Zweifel“
Am 9. Juni jährt sich zum 20. Mal der Nagelbombenanschlag des NSU auf der Keupstraße. Wie blicken Sie auf diesen Tag?
Fabian Virchow: Ich glaube, da gibt es verschiedene Blickrichtungen. Die eine betrifft sicherlich die Tatsache, dass auch nach 20 Jahren das Problem des rechtsextremen Terrorismus nicht vom Tisch ist. Sondern dass es in der Nachfolge eine Vielzahl an bekannten Gewalttaten gab, ob das jetzt Hanau, Halle oder der Mord an Walter Lübcke war.
Fabian Virchow, Jahrgang 1960, ist Professor für Sozialwissenschaften an der Hochschule Düsseldorf (HSD). Er leitet den Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus/Neonazismus, ist Autor des Buches „Nicht nur der NSU: Eine kleine Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland“. Bei Birlikte am Sonntag nimmt Virchow am Podium „Wege zum Gedenken an und Aufarbeitung von rechtsextremer Gewalt“ um 12.30 Uhr im Depot 1 teil.
Welche Blickrichtungen meinen Sie noch?
Die zweite Blickrichtung ist, dass das, was ursprünglich einmal versprochen worden war, nämlich eine lückenlose Aufklärung, in manchen Teilen nicht eingelöst worden ist. Insbesondere das Gericht hat das nicht leisten können. Aufzuklären, was die Hintergründe waren und wer zusätzlich involviert war, ist nicht geschehen. Stattdessen hat man sich relativ schnell auf einen kleinen Kreis an Beschuldigten konzentriert und breitere Netzwerke nicht intensiv in den Blick genommen. Andererseits war das Bekanntwerden des NSU 2011 eine wichtige Weichenstellung und hat für die Betroffenen dazu geführt, in der Öffentlichkeit mehr wahrgenommen zu werden.
Wissenschaftler zur Keupstraße: „Die Betroffenen haben eine Kultur des Verdachts erlebt“
Von einer rechtsextremen Gewaltserie war davor keine Rede, stattdessen wurde von „Dönermorden“ gesprochen. Was hat das für Auswirkungen gehabt?
Die Ermittlungsarbeit und nachfolgend auch große Teile der medialen Berichterstattung sind dadurch geprägt gewesen, dass die Ermittlungstätigkeit sehr stark davon ausgegangen ist, dass die Tatmotive irgendwo im migrantischen und teilkriminellen Milieu zu finden sein müssten. Und die Ermittlungstätigkeit hat viel Fantasie entwickelt, um diesen Spuren nachzugehen, obwohl sich keine Evidenz eingestellt hat.
Das Festhalten an diesem Ermittlungsansatz hat bei den Betroffenen dazu geführt, dass sich eine Kultur des Verdachts auf ihre sozialen Beziehungen ausgewirkt hat. Dass Menschen sich von ihnen zurückgezogen haben, die dachten: Vielleicht stecken die ja doch irgendwie mit drin. Die Betroffenen sind sozial isoliert worden, mit ökonomischen, psychischen und physischen Folgen. Als klar wurde, dass Neonazis hinter den Anschlägen steckten, wurde dieses Bild etwas rehabilitiert. Aber so etwas lässt sich natürlich nicht vollständig rückgängig machen.
Wie kann eine Aufarbeitung des NSU und des Nagelbombenanschlags denn dann überhaupt noch gelingen?
Ein wichtiger Schritt damals war die Trauerfeier, zu der auch Angela Merkel gekommen ist. Das war für die Angehörigen ein öffentliches Signal: Wir stehen an eurer Seite. Andererseits ist das Versprechen, die Anschläge vollumfänglich aufzuklären, nicht wirklich eingelöst worden – was vielleicht auch gar nicht möglich ist. Für die Betroffenen bleibt so aber die Frage nach dem „Warum“. Und natürlich spielen auch finanzielle Entschädigungen eine Rolle. Die Betroffenen sind aber auch keine homogene Gruppe, und die Wünsche können sehr unterschiedlich aussehen.
„Die Community zeigt: Ihr vertreibt uns hier nicht“
Kann eine Veranstaltung wie „Birlikte“ aus zivilgesellschaftlicher Sicht etwas zur Aufarbeitung beitragen?
Natürlich nicht aus ermittlungstechnischer Sicht. Aber die Community, die durch die Anschläge angegriffen worden ist, signalisiert damit ganz klar: Wir sind ein Teil der Bevölkerung, ihr vertreibt uns hier nicht. Wir tragen vielfältig zum gesellschaftlichen Leben bei. Und wir sind gut organisiert. Das ist eine wichtige Botschaft. Und das Programm ist in diesem Jahr wirklich beeindruckend umfangreich geworden.
Die Gefahr von rechts ist nicht erst seit den Remigrationsdebatten wieder sehr akut. Ist die Gesellschaft dafür gewappnet?
Mir sind verschiedene Beispiele geschildert worden, wo Kinder ihre Eltern gefragt haben, ob sie jetzt hier wegmüssen. Verunsicherungen und Ängste werden hervorgerufen, ja. Gleichzeitig gibt es mit den großen Kundgebungen und Demonstration Reaktionen darauf, die zeigen: Wir sind nicht wehrlos, wir lassen uns das nicht gefallen. In vielen Städten bauen sich Bündnisse und Strukturen auf, die das auch nach den Demos weiterführen. Das macht Mut. Aber es müssen auch konkrete Schritte aus den Solidaritätsbekundungen der politischen Prominenz folgen.
Sind wir auf potenziell kommende Anschläge besser vorbereitet als damals?
Da habe ich Zweifel. Die Generalbundesanwaltschaft ist jetzt besser aufgestellt und schaut schneller hin, wenn es sich um terroristische oder rechtsterroristische Anschläge handelt. Bei der polizeilichen Ermittlungsarbeit ist das Bild sehr gemischt. Es gibt Beamtinnen und Beamte, die die Frage eines möglichen rassistischen Hintergrundes immer mitdenken. Es gibt aber auch die, die eine veraltete Form der Ermittlungsarbeit fortführen.