Nachruf auf Kurt Werner PickEngagierter Christ oder Unruhestifter? Er wollte die Kirche revolutionieren

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Eröffnung des City-Pavillons an der Antoniterkirche im Jahr 2000. In der Mitte Kurt Werner Pick, rechts der damalige Stadtsuperintendent Karl Schick.

Eröffnung des City-Pavillons an der Antoniterkirche im Jahr 2000. In der Mitte Kurt Werner Pick, rechts der damalige Stadtsuperintendent Karl Schick.

Kurt Werner Pick wurde nach elf Jahren in der Antoniterkirche als Pfarrer abberufen. Er starb mit 75 Jahren in Wuppertal. Ein Nachruf.

Für die einen war er ein vorbildlich engagierter Christ, der es verstand, der Kirche ein markantes Profil zu geben. Den anderen galt er als Unruhestifter, der über öffentlichkeitswirksamen Aktionen die Seelsorge in der Gemeinde vernachlässigte. Im Dezember 2001, nach elf Jahren Dienst an der Antoniterkirche, wurde Kurt Werner Pick als Pfarrer für Citykirchen- und Öffentlichkeitsarbeit in der Evangelischen Gemeinde Köln abberufen: Das „kirchliche Interesse an einer qualifizierten Arbeit“ sei unvereinbar damit, dass der Pfarrer an der Antoniterkirche weiterwirke, befand das Landeskirchenamt, und das Presbyterium zog in der dritten Sitzung zu dem Fall mit knapper Mehrheit mit.

Im Grunde habe es sich um einen „Richtungsstreit in Kirche und Gesellschaft“ gehandelt, „der sich an meiner Person entzündet“ habe und „auf meinen Schultern ausgetragen“ worden sei, schreibt Pick in seiner Autobiografie „Grenzerfahrungen“. Seine Niederlage bringt er so auf den Punkt: „Die Verteidiger der Asche triumphieren am Ende über die, die die Glut weitertragen wollen.“ Den Verlust der Pfarrstelle empfand er bis zum Schluss als „offene Wunde“. Im vorigen Dezember ist er in Wuppertal gestorben.

Ich spüre: Dies ist mein Ort: Auf der Grenze zwischen Stadt und Gemeinde, zwischen Kirche und zunehmend säkularer Gesellschaft.
Kurt Werner Pick

Der Start in Köln Anfang 1990 war für den damals 43-Jährigen ein „Neuanfang, so radikal, wie ich ihn nie zuvor erlebt hatte“. Hinter ihm lagen zwölf Jahre Pfarrdienst in Ludweiler, einem Stadtteil von Völklingen im Saarland, ein Dienst, bei dem er schon nach wenigen Jahren das Gefühl hatte, „in Routine zu erstarren“. Ein Ausgleich war das tägliche Lauftraining; lange Zeit nahm er an Marathons teil. Im Pfarrhaus wohnte er zusammen mit seiner Frau Judith, Adoptivsohn Thorsten und zwei Pflegekindern. Die Ehe steckte in der Krise. Judith Holdsworth-Pick litt darunter, auf die Rolle der Pfarrfrau festgelegt zu werden. Schließlich trennte sich das Paar.

Also begann Pick den neuen Lebensabschnitt in Köln alleine. Im Abberufungsverfahren wurde zu den folgenden Jahren unter anderem vermerkt, er habe Liebesbeziehungen zu mehreren Frauen aus seinem unmittelbaren Dienstumfeld gehabt, was nach den Trennungen die Zusammenarbeit erschwert oder unmöglich gemacht habe. Ausschlaggebend für die Abberufung war dies allerdings nicht. Die Arbeit an der Antoniterkirche teilt sich Pick, der für die Öffentlichkeitsarbeit und die Seelsorge von Passanten zuständig ist, mit einem weiteren Pfarrer, der die Gemeinde betreut. Pick hat das Gefühl, genau am richtigen Platz zu sein: „Ich spüre: Dies ist mein Ort: Auf der Grenze zwischen Stadt und Gemeinde, zwischen Kirche und zunehmend säkularer Gesellschaft.“

Alice Schwarzer, Johannes Rau und Gregor Gysi als Prediger eingeladen

Sein Grundanliegen: Wie ist es möglich, Menschen zu erreichen, die sich der Kirche entfremdet haben oder ihr nie nahestanden? Pick entwickelt die Reihe „Stadtpredigten“: Gottesdienste, in denen eine Person des öffentlichen Lebens die Predigt übernimmt; danach wird mit der Gemeinde diskutiert. Auf der Kanzel stehen etwa Johannes Rau, Alice Schwarzer und Ralph Giordano. Die Reihe ist ein Erfolg.

Anfang 1998 protestiert Weihbischof Klaus Dick dagegen, dass Leute eingeladen würden, „die für ihre Hasstiraden gegen die katholische Kirche öffentlich bekannt sind“; gemünzt ist dies auf Uta Ranke-Heinemann und Eugen Drewermann. Die Aufregung über die Intervention des Erzbistums ist groß. Drewermann hält im März 1998 wegen des enormen Interesses gleich drei „Stadtpredigten“ hintereinander; 1999 kommt er wieder. Trotzdem ist Pick enttäuscht, weil er den Eindruck hat, seine Vorgesetzten hätten „nur zögerlich die evangelische Freiheit vor katholischer Einmischung geschützt“.

Kurt Werner Pick (rechts) mit Michel Friedman, der eine „Stadtpredigt“ hielt.

Kurt Werner Pick (r.) mit Michel Friedman, der eine „Stadtpredigt“ hielt.

Neuen Ärger gibt es, als Gregor Gysi, Politiker der Linken und Atheist, im Juni 2000 die Stadtpredigt halten soll. Der damalige Präses Manfred Kock verlangt, ihn auszuladen. Doch Gysi spricht. Anfang 1995 sind die „Politischen Nachtgebete“ in der Antoniterkirche wieder aufgelebt; sie verbinden politische Vorgänge mit theologischer Reflexion. Das erste dieser „Nachtgebete“ wird als Fernsehgottesdienst vom ZDF live übertragen. Dafür steuert der Künstler Gunter Demnig einige Hundert seiner „Stolpersteine“ bei, die an das Schicksal von Nazi-Opfern erinnern, denn es soll ein Bogen von ihnen zum gegenwärtigen Umgang mit Flüchtlingen geschlagen werden.

Der Anlass: Die Antoniterkirche gewährt seit 1991 zwei Roma-Familien Kirchenasyl. Nach etwa sechs Jahren bekommen sie eine unbefristete Aufenthaltsbefugnis. 1998 beteiligt sich die Kirche daran, Kurden mit einem Wanderkirchenasyl zu schützen. Auch mit Kunstprojekten macht sie von sich reden. Etwa im September 1992, als großformatige Fotografien wie ein Passionsweg von der Schildergasse ins Kircheninnere führen. Sie zeigen Frauen, die die Fotografin Bettina Flitner gefragt hat, ob sie einen Feind haben, und wenn ja, was sie mit ihm anstellen würden, wenn sie es ungestraft tun könnten. Einige haben sich mit einer Kunststoffwaffe ablichten lassen, was Kritiker der Installation als unchristliche Gewaltdarstellung empfinden.

Mein Leben begann auf der Grenze, auf der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen Krieg und Frieden.
Kurt Werner Pick

Empörung ruft das 1998 im Seitenschiff gezeigte Bild „Die Weinende“ von Wolf Vostell hervor, das eine weinende Vagina darstellt. Gottesdienste für Schwule und Lesben, Rave-Partys, Literaturlesungen, die Eröffnung des City-Pavillons - unermüdlich treibt Pick die Citykirchenarbeit voran.

Geboren wurde er 1947 im Karlsbrunn im Saarland, das erst 1957 Teil der Bundesrepublik wurde. „Mein Leben begann auf der Grenze“, schreibt Pick, „auf der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen Krieg und Frieden.“ Der Vater, häufig abwesend, arbeitete als Bergmann und Maurer. Die Mutter, die eine Tochter mit in die Ehe gebracht hatte, war Hausfrau. Sie in seiner Nähe zu haben bedeutete für den Sohn „Schutz, Sicherheit, Vertrauen“. Doch wenn sie in einen ihrer depressiven Zustände verfiel, war sie stundenlang nicht ansprechbar.

Kurt Werner Pick 1961

Kurt Werner Pick 1961

Zu einer Vaterfigur, die ihn nachhaltig prägte, wurde dem Jugendlichen Gemeindepfarrer Gerd Glimm. Er sprach unverblümt über die Nazi-Zeit, gewann Pick für ehrenamtliche Mitarbeit und sorgte dafür, dass er Orgelunterricht bekam. In einem Buch stieß Pick zum ersten Mal auf den Theologen Paul Tillich, dessen „Methode der Korrelation“, die existenzielles Fragen und theologisches Antworten miteinander verschränkt, ihn sein Leben lang nicht mehr losließ. Pick studierte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, bevor er an die Uni Heidelberg wechselte. Bald lernte er Judith Holdsworth aus Boston kennen, seine künftige Frau. Sie studierte Politologie.

Nach einem zwei Semester langen Intermezzo in Mainz und zwei weiteren Semestern in Bonn machte Pick in Düsseldorf sein Erstes Kirchliches Examen. Er liebäugelte mit einer akademischen Laufbahn, doch auf Drängen seines Mentors Glimm wurde er, inzwischen verheiratet, Vikar in Düsseldorf-Garath. Enttäuschend war für ihn zu erleben, wie wenig Gläubige in die herkömmlichen Gottesdienste kamen. Er entwickelte „die Hoffnung, dass Kirche sich nicht im Leben der selbstgenügsamen Kerngemeinde abschottet, sondern ihr Angebot der gesamten Gesellschaft in aller Öffentlichkeit präsentiert und so für alle sichtbar ist“.

Wir haben gekämpft wie die Löwen und waren am Ende fassungslos.
Hans Mörtter, jahrzehntelang Pfarrer an der Lutherkirche in der Südstadt

Nach dem Zweiten Kirchlichen Examen ging er, ausgestattet mit einem Stipendium, mit Frau und Pflegekind nach Boston, wo er weiter studierte und mit feministischer Theologie in Berührung kam. Später unterrichtete er Sozialethik, bis das Geld zu knapp wurde. In Deutschland lockte die Sicherheit, die eine feste Pfarrstelle bot. Seine Eltern wirkten auf ihn ein, ebenso Glimm. 1978 ging es von Boston ins winzige Ludweiler - auch für die Ehe eine Belastungsprobe.

23 Jahre später war Kurt Werner Pick längst geschieden und die Kölner Pfarrstelle los. „Wir haben gekämpft wie die Löwen und waren am Ende fassungslos“, erinnert sich Hans Mörtter, jahrzehntelang Pfarrer an der Lutherkirche in der Südstadt, daran, dass er und einige Mitstreiter vergeblich versuchten, Picks Abberufung zu verhindern. Mit dem Kollegen habe er sich im Bemühen eins gewusst, „in die Stadt hineinzureden“ und die Gesellschaft dazu zu bringen, Stellung zu beziehen. Manche hätten Pick zum Vorwurf gemacht, er habe ein „autokratisches Verhalten“ an den Tag gelegt und „die presbyterialen Regeln ignoriert“. Auch wenn Mörtter dies bezweifelt, räumt er ein, Pick sei ein „sehr selbstbezogener Mensch“ gewesen.

Kurt Werner Pick litt an Parkinson

Dass der Citykirchenpfarrer sich schließlich nicht mehr gegen die Abberufung wehrt, hat damit zu tun, dass ihm Parkinson zu schaffen macht. Im Sommer 2001 kommt er in die Uniklinik. Mit Beginn des nächsten Jahrs wird er „Pfarrer im Wartestand“. Bis 2003 ist er weitgehend lahmgelegt, dann schafft die Einpflanzung eines „Hirnschrittmachers“ Abhilfe, und er arbeitet zwei Jahre im „Kirchenpavillon“ in Bonn.

Das Landeskirchenamt ist bereit, ihm die Bezüge des Wartestands weiterzuzahlen, während er in Washington seinen Traum von der Promotion verwirklicht: Er studiert am Wesley Theological Seminary und fertigt eine Doktorarbeit an, in der er die „Methode der Korrelation“ darauf anwendet, Theologie und amerikanische Gegenwartsliteratur in Beziehung zu setzen. Die Dissertation verteidigt er in Form eines Vortrags im Literaturhaus Köln. 2008 wird ihm die Doktorwürde verliehen.

Als er endgültig nach Deutschland zurückkehrt, ist er aus gesundheitlichen Gründen pensioniert. Über die kommenden Jahre, in denen er in Sülz wohnt, schreibt er: „Ich begebe mich in die Isolation, ziehe mich in meine eigenen vier Wände zurück, begnüge mich mit dem Alleinsein.“ Er fühlt sich „zunehmend verloren und überflüssig in dieser Welt.“ Einen gewissen Halt findet er daran, Tagebuch zu führen, begleitet von der Idee, es als Blog zu veröffentlichen. Dadurch lebt der Kontakt zu einer Freundin wieder auf: Heike Rödder, Pfarrerin und Gefängnisseelsorgerin. 2015 heiratet das Paar. Pick zieht zu ihr nach Wuppertal. Gemeinsam schreiben sie seine Lebenserinnerungen auf. „Die Krankheit nahm zunehmend Raum ein“, sagt sie. Er, ein eloquenter, „brillanter Kopf“, habe sehr darunter gelitten, das Fortschreiten der Demenz zu bemerken.

Im November 2022 kommt er ins Krankenhaus. In den letzten Lebensstunden kann Heike Rödder nicht bei ihm sein. In der Notaufnahme sind Angehörige nicht erlaubt; selbst als der Arzt zweifelt, ob ihr Mann die Nacht überstehen wird, wird sie nicht zu ihm gelassen. „Das bedaure ich zutiefst“, sagt sie. Zweimal hatte sie ihn bei kurzen Besuchen seiner alten Wirkungsstätte begleitet, bevor er sich alleine in die Antoniterkirche wagte. Sie war ihm fremd geworden. Es schmerzte ihn, dass die „Holocaust-Stele“ des Künstlers Dieter Boers abgebaut war. „Viel Bereicherndes“ habe er in der Kirche erfahren und „vor allem viele interessante Menschen getroffen“, schreibt er. „Aber eine gewisse Bitterkeit lässt sich nicht verhehlen.“

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