Anni Scheider (100) ist ein Phänomen: Eine Ermutigung am Ende eines Jahres im Dauerkrisenmodus.
Nicht Hängenlassen und tun, was nötig istHundertjährige Kölnerin erzählt, wie man jede Krise meistert
Von Resilienz ist in diesen Tagen viel die Rede. Von innerer Widerstandsfähigkeit also, die Menschen brauchen, um Krisen ohne seelische Beeinträchtigung zu bestehen. Ratgeberseiten und Magazine thematisieren, wie man es schaffen kann, in der aktuellen Welt von Krieg, Unsicherheiten und Klimakrise irgendwie die Zuversicht zu bewahren.
Alternativ kann man sich am Ende eines aufwühlenden Jahres in der Dauerkrise einfach am gelebten kölschen Beispiel anschauen, wie das gelingen kann: „Ich bin die Anni“, stellt sich Anni Scheider vor, als sie die Tür des kleinen Reihenhäuschens in Mauenheim mit einem offenen Lächeln öffnet. Begleitet von einem kumpelhaft-liebevollen Klaps auf den Arm der Besucherin: „Schön, dass Sie da sind.“ Die Hundertjährige hat sich gerade ihr Mittagessen gekocht.
Die zarte, kleine Frau, die ein ganzes Jahrhundert auf dem Buckel hat, lebt noch völlig selbstständig: „Ich koche noch selbst und zum Einkaufen fahre ich nach Nippes mit dem Bus.“ Wenn sie dann mit ihrem Hackenporsche zu Fuß auf der Neusser Straße unterwegs ist oder ihren Stamm-Friseur ansteuert, ist „die Anni“ bekannt wie ein bunter Hund. Noch bis vor zwei Jahren nahm sie das Fahrrad. Jetzt ist die Treppe in ihrem Haus das tägliche Sportprogramm.
Die Kölner Bombennächte bleiben lebendig
Wie kriegt man das bloß hin, so fit so alt zu werden? „Bloß nicht zu viel auf dem Sofa sitzen“, hat sie gleich ihren ersten Ratschlag parat im inoffiziellen kölschen Seminar in Sachen Resilienz. Und: „Sich niemals die gute Laune verderben lassen. Ich lache einfach gern.“ Dabei hat das „echte kölsche Mädchen“, das seit 80 Jahren im gleichen kleinen Reihenhaus in der Nibelungensiedlung in Mauenheim lebt, in einem turbulenten Jahrhundert schon viel Leid und Krisen erlebt.
Den Zweiten Weltkrieg mit den Bombennächten in Köln hat sie in lebendiger Erinnerung: Mutter und Schwester wurden in einem zerstörten Haus verschüttet, während sie sich mit ihrem Vater in einen Bunker retten konnte, erzählt sie. Mit den Händen konnte sie die beiden wieder ausgraben. Sie waren die einzigen Überlebenden, die anderen Bewohner waren tot. Wie lebt man weiter nach einer solchen Erschütterung, nach so viel Tod um einen herum? „Nicht hängen lassen, nicht zu viel zurückschauen und einfach das tun, was nötig ist“, sagt sie.
So hat Anni Scheider es immer gehalten. Dass der Tod der Begleiter eines langen Lebens ist, wirkt bei ihr wie eine beiläufige Selbstverständlichkeit – ohne dass man das Gefühl hat, dass sie die Zumutung, die darin liegt, einfach abtut. Abschiednehmen und Loslassen, das hat sie eingeübt: Ihren Mann verlor Anni Scheider mit nur 60 Jahren. Ihre Mutter hat sie bei sich zu Hause bis zu ihrem Tod gepflegt, da war sie selbst schon 75 Jahre alt. Danach holte sie ihre demenzkranke Schwester zu sich, die nicht mehr alleine leben konnte, um auch sie in der letzten Lebensphase zu pflegen. Schließlich hat sie ihren einzigen Sohn vor 13 Jahren nach schwerer Krankheit ebenfalls mit 60 Jahren im Sterben begleitet.
„Die Anni hat immer gesehen, was zu tun ist, und es dann einfach gemacht. Klagen oder gar Bitterkeit gibt es bei ihr nicht“, erzählt eine Nachbarin. „Jammern kann ich überhaupt nicht haben. Und bei Gesprächen über Krankheiten schalte ich auf Durchzug“, ergänzt Anni Scheider. Wenn dann doch mal die Traurigkeit in ihr hochsteige, „trete ich mir selbst in den Hintern und ziehe mich an den eigenen Haaren raus aus dem Loch“.
Dann verabredet sie sich mit ihren beiden Freundinnen, 80 und 88 Jahre alt, und fährt nach Chorweiler in ihr Stammcafé zum Frühstücken. Sich auch jüngere Freundinnen zu suchen, damit man im Alter nicht vereinsamt, wenn die Gleichaltrigen um einen herum sterben, das kann sie nur empfehlen. Und wenn in der Nachbarschaft neue junge Familien einziehen, dann geht sie einfach klingeln und stellt sich vor: Ein schlichtes „Ich bin die Anni“ und das Eis ist gebrochen. „Das ist ja nicht schwer.“
Auch Shoppen geht Anni Scheider immer noch gerne und achtet auf ihr Äußeres. „Ich habe in meinen Schränken im Schlafzimmer eine ganze Boutique“, sagt sie lachend. Und wenn sie eingeladen ist, legt sie auch gerne mal knallroten Lippenstift auf und lackiert sich die Nägel. „Warum sollte man sich mit 100 Jahren nicht mehr schön machen?“
Und was hilft sonst noch für ein krisenfestes Leben? „Ich halte mich einfach an dem Schönen fest. Auch an dem Kleinen.“ Anni Scheider hat sich entschieden, immer auf das zu schauen, was sie hat und dafür dankbar zu sein: Ihre drei Enkelsöhne und die beiden Ur-Enkelinnen sind ihr ganzer Stolz. Die Kleinste, Antonia, ist gerade ein halbes Jahr alt. Am vergangenen Wochenende war Taufe. „Ein großartiges Fest. Mit unglaublich leckerem Essen.“ Ringsum im Wohnzimmer stehen die Bilder ihres Lebens. Lebende und Verstorbene, alle, die ihr lieb und teuer sind, hat sie hier aufgereiht. „Die sind immer da.“
Ansonsten helfe es, sich keinen Kopf über Dinge zu machen, die passieren könnten. „Ich denke nicht über morgen nach und Angst habe ich auch nicht. Die hatte ich im Krieg nicht und die habe ich auch jetzt nicht.“ Klar, dass auch sie irgendwann bald sterben muss. „Ich habe beschlossen, dass ich einfach einschlafen werde. Aber auch daran denke ich heute noch nicht.“
Viel lieber denkt sie daran, wie sie nächsten Sommer ihren 101. Geburtstag feiert und schmiedet Pläne. Denn der Hundertste, der war ein rauschendes Fest ganz nach ihrem Geschmack. Die ganze Nachbarschaft war zu Gast, quer durch alle Generationen. Beim großen kölschen Buffet wurde gefeiert von morgens bis in den Abend hinein, erzählt die Nachbarin: „Und um 21 Uhr ist die Anni dann aufgestanden und hat ‚So ein Tag, so wunderschön wie heute‘ angestimmt.“