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Obdachlose Frauen in KölnWie es sich anfühlt, auf der Straße zu leben

Lesezeit 6 Minuten
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Bettie sitzt mit ihrem Dackel an ihrem Stammplatz. Der Hund ist ihr einziger Gefährte. 

Köln – „Die Tauben, das sind meine Freunde.“ Für Nora N., die an ihrem Stammplatz rechts neben dem Haupteingang des Hauptbahnhofs sitzt, sind die Tiere auf der Domplatte Seelenverwandte. Verkannt als schmarotzende Ratten der Lüfte. „Bettler, genau wie ich.“ Die 34-jährige junge Frau mit den rot gefärbten Haaren und den feinen Gesichtszügen lebt mit Unterbrechung auf der Straße seit sie 17 Jahre alt ist. Fast genauso lange kämpft sie gegen ihre Drogensucht, in die sie in ihrer jugendlichen Rebellion damals als Punk irgendwie reingerutscht ist.

Sie schnorrt, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Nora, die offen über ihr Leben als Frau auf der Straße redet und in der Stadt bekannt ist, ist eine Ausnahme. Denn obwohl die Zahl der obdachlosen Frauen in Köln wie auch bundesweit stetig steigt, bleiben sie im Stadtbild merkwürdig unsichtbar. Egal, ob vor dem eigenen Supermarkt im Veedel oder entlang der Hohe Straße: Fast ausschließlich Männer prägen das Stadtbild.In Köln waren 2016 nach Angaben des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) 4871 Menschen obdachlos – zum Vergleich: 2011 waren es noch 3655.

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Für  Nora sind die Tauben Seelenverwandte. 

Dabei erfasst die Statistik nur Menschen, die in Köln gemeldet sind. Also zum Beispiel nicht die stark wachsende Gruppe obdachloser Osteuropäer. Schätzungsweise 20 Prozent der Obdachlosen seien Frauen, erläutert Anne Rossenbach, Pressesprecherin des SkF. Die Dunkelziffer dürfte allerdings deutlich höher sein, heißt es in einem Bericht des Sozialamts. Denn Frauen tendieren dazu, ihre Wohnungslosigkeit zu verschweigen und leben häufig in verdeckter Obdachlosigkeit: Sie schaffen es lange, nicht aufzufallen, pflegen sich, achten auf ihre Kleidung, wahren die Fassade nach außen.

Eigene Familie oft im Dunkeln gelassen

„Oft weiß selbst die eigene Familie nicht, dass die Frau auf der Straße lebt“, erzählt Linda Rennings (54) – in der Szene bekannt als „Kölsche Linda“. Sie, die selbst viele Jahre in Köln auf der Straße gelebt hat – davon anderthalb Jahre auf dem Dünnwalder Friedhof neben dem Grab ihrer Oma –, kennt die meisten obdachlosen Frauen in Köln. Mit dem von ihr gegründeten spendenfinanzierten Verein „Heimatlos in Köln“ (Hik) hat sie es sich zur Lebensaufgabe gemacht, sich um obdachlose Frauen zu kümmern. Bei ihrer Arbeit trifft sie immer öfter auf ältere Frauen: „Da stirbt der Mann, die Witwe kann die teure Wohnung nicht mehr bezahlen. Eine preiswerte findet sie nicht. Irgendwann kommt die Räumungsklage. Du packst deine Tasche, und das Versteckspiel beginnt.“

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Jetzt zur „Hochsaison“ ist sie wieder jeden Tag in der Stadt unterwegs, wenn mal wieder auf ihrem „Plattentelefon“ ein Hilferuf eingegangen ist: „Der Hauptgrund dafür, dass sich die meisten Frauen verstecken, ist Scham.“ Die sei stärker ausgeprägt als bei Männern, die das Schicksal Obdachlosigkeit oft fatalistischer annähmen, hat der Streetfotograf Gerd Bonse beobachtet. Auf seinen Streifzügen durch die Stadt nähert er sich auf sensible Art Obdachlosen und wirbt mit seinen Bildern dafür, sich auf Augenhöhe zu begeben.

„Da sitzt der ehemalige Professor genauso wie die Angestellte, der ein Schicksalsschlag den Boden weggezogen hat. Aber auch Menschen, deren Eltern Alkoholiker waren und die als Jugendliche ausgerissen sind.“ Wer sich mit ihnen unterhalte, der erschrecke, wie schnell das gehen kann. Und wie viel Pech manche im Leben hätten. „Ich rege mich jedenfalls nicht mehr über meine nicht geleerte Mülltonne auf, seit ich mit Obdachlosen rede.“

„Ich fühle mich als Versager“

„Ich fühle mich als Versager. Irgendwie schuldig, dass ich es in meinem Leben nicht geschafft habe“, sagt Nora. Sie spricht für die vielen anderen, die unsichtbar oder stumm sind. Für Bettie, deren Hund Lucky ihr einziger Gefährte ist. Beruf und Familie habe sie verloren. Mehr will sie nicht sagen. Für Ramona, die nach dem Tod ihres Gefährten Ali den Halt verloren und in die Drogenszene am Neumarkt abgerutscht ist. Wie ein großer Teil der Frauen auf der Straße hat Nora psychische Probleme, Borderline-Syndrom, dazu die Drogensucht, der sie immer wieder mit großer Kraftanstrengung zu entkommen versucht – seit einigen Monaten ist sie in einem Methadonprogramm.

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Hunde sind häufig dabei: Als Gefährten.

Das Schlimmste für sie sind die Kommentare, wenn sie an ihrem Stammplatz sitzt, um die acht Euro, die sie täglich zum Leben braucht, zusammenzubetteln. „Geh arbeiten, du faules Miststück.“ Oder: „Geh doch anschaffen, du Schlampe.“ So gehe das jeden Tag. „Sich so demütigen zu lassen, das geht an die Substanz. Als ich zugedröhnt war, war das einfacher. Da prallt das besser an dir ab,“ meint sie selbst. Der Entzug lässt ihren Körper beständig leicht zittern. „Wenn ich mich stark fühle, antworte ich »Tausch doch mal mit mir«“ – einfach weil sie selbst ja nichts lieber würde als tauschen mit dem, der da an ihr vorbei ins Büro geht. Wer könne sich schon vorstellen, wie das sei, nirgendwo zu Hause zu sein, und wie viel Kraft das koste, von den verdammten Drogen loszukommen, um das Leben auf der Straße hinter sich zu lassen. „Danke, dass Sie sich für den Menschen hinter dem Becher interessiert haben“, sagt sie immer, wenn jemand sie angesprochen hat.

Für Frauen ist es gefährlicher als für Männer

„Ich bin eigentlich in meinem Leben nur auf eines stolz: Ich bin nie kriminell geworden und habe mich nie für einen Schlafplatz prostituiert. Auch wenn die Versuchung da war.“ Damit spricht Nora ein weiteres großes Problem für Frauen auf der Straße an: „Für obdachlose Frauen ist die Straße, vor allem nachts, viel gefährlicher als für Männer“, sagt Linda Rennings. Oft seien sie Gewalt wehrlos ausgesetzt. Auch sexuelle Gewalt gegen Frauen – auf der Straße und in Obdachlosenunterkünften, in denen beide Geschlechter untergebracht werden – sei an der Tagesordnung, sagt Dennis, der seinen Stammplatz auf der Hohe Straße hat. Regelmäßig gehe er schützend dazwischen. Es gebe aber auch sesshafte Männer, die explizit die Obdachlosen ansprechen und gegen Sex einen Schlafplatz bei sich zu Hause anbieten. „Schlafprostitution“ nennt Linda Rennings diesen Deal, der auf Kölner Straßen gezielt angeboten werde.

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Immer mehr Frauen sind obdachlos.

Die Situation in Köln werde für obdachlose Frauen immer schwieriger, fasst Rossenbach vom SkF die Lage zusammen. Das liege aber nicht etwa an fehlenden Notschlafplätzen, sondern vielmehr am fehlenden preiswerten Wohnraum. Es fehlten vor allem kleine Sozialwohnungen. „50 Prozent aller Kölner haben einen Wohnberechtigungsschein. Bei der Konkurrenz um den viel zu knappen Wohnraum haben Obdachlose – zumal in einer wachsenden Stadt wie Köln – keine Chance.“ Selbst wenn die betroffenen Frauen sich stabilisiert hätten, gebe es kaum Möglichkeiten, diese schwächsten Mitglieder der Gesellschaft sesshaft unterzubringen. Gerade in der Vorweihnachtszeit sei es besonders schwierig, sagt Nora. „Dann sind die Wohnungen beleuchtet. Man geht an den Häusern vorbei und sieht Familien am Tisch sitzen. Das sieht so gemütlich aus. Und dann kommt die Sehnsucht wieder, die auch nach all den Jahren nicht vorbeigeht. Die Sehnsucht nach Ankommen.“

Der Fotograf

Der Kölner Hobbyfotograf Gerd Bonse (72) hat es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen in Köln, die am Rande der Gesellschaft leben, mit seiner Kamera zu begleiten. Aber er ist nicht nur Fotograf, sondern auch Zuhörer. In seinen Ausstellungen will er mit den Bildern für die einzelnen Schicksale sensibilisieren. Seine Ausstellung „Ohne Wohnung – Mit Würde. Fotografische Begegnungen mit Menschen am Rande der Gesellschaft“ ist noch bis 27. November in Aachen beim Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler (Adalbertsteinweg 123) zu sehen.