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Terminprobleme in KölnDer siebenjährige Joshua leidet unter Schwerhörigkeit, doch bekommt keine OP

Lesezeit 7 Minuten
Joshua, 7 Jahre

Joshua, sieben Jahre, leidet unter einem Paukenerguss und wartet auf einen OP-Termin.

Ein bisschen Flüssigkeit im Innenohr macht Joshua aus Köln schwerhörig. Eine kleine OP könnte helfen, die Wartezeit beträgt aber mitunter ein Jahr.

Wenn Gregor Kobel in die linke obere Ecke hechtet und den Ball runterpflückt, noch ehe dieser ins Netz einschlägt, dann jubelt das Stadion auch im Wohnzimmer in Weidenpesch ohrenbetäubend. Der sieben Jahre alte Joshua sitzt dann vor dem Fernseher und freut sich für seinen Lieblingsverein Borussia Dortmund. Auch die Hörspiele der Drei Fragezeichen dröhnen durch das ganze Haus, erzählt Mutter Rahel Lausch.

Seit einem Jahr ist der Lautstärkeregler der Familie nach oben gedreht. Der Grund liegt in Joshuas Kinderohren und heißt Paukenerguss: Nach einer Mittelentzündung im Sommer 2023 ist Joshuas Ohr nicht gut belüftet, Flüssigkeit sammelt sich, das Trommelfell kann nicht richtig schwingen. Hörbeeinträchtigung von bis zu 30 Dezibel sind möglich. „Das ist vergleichbar mit dem Einsetzen von Ohropax beidseitig und stellt im Prinzip eine Hörgeräteindikation dar“, sagt Hals-Nasen-Ohren-Arzt Gregor Steffen aus Köln.

Die gute Nachricht: Der operative Einsatz von Paukenröhrchen kann die Kinderohren vom Erguss befreien und die Hörfähigkeit wieder komplett herstellen. Die schlechte: Im ganzen Land, aber in besonders in Köln sind derlei OP-Termine Mangelware. Der früheste Termin, der Rahel Lausch zunächst angeboten wurde: Sommer 2025, also in fast einem Jahr.

„Die Lehrerin hat uns schon sehr früh darauf aufmerksam gemacht, dass Joshua deshalb Schwierigkeiten in der Schule hat. Er muss sich doppelt so gut konzentrieren, um die richtigen Laute herauszufiltern“, erzählt Lausch. Bislang zögert die Mutter, ihren ballverrückten Sohn im Fußballverein anzumelden. Auf die Kommandos des Trainers könnte er ohnehin nicht reagieren. Auch das Fahrradfahren hat der Arzt Joshua mittlerweile verboten. „Er hört keine heranrauschenden Autos, er hört nicht meine Kommandos“, sagt Lausch.

Fürs Erste wird Joshua also wieder auf einem Kindersitz zur Schule gebracht, den Mutter Rahel Lausch extra gekauft hat. Ein Rückschritt für den sportlichen Siebenjährigen, der nicht nur ständig Bälle kickt, sondern auch gern mit seinem Fahrrad durch die Gegend flitzt.

Ärzte beklagen ein zu geringes OP-Honorar

Über die Ursache des Terminmangels, die Schätzungen zufolge Tausende Kinder in ganz Deutschland betrifft, herrscht Uneinigkeit. Ein zu geringes OP-Honorar für ambulant operierende Mediziner, hoher Kostendruck auch auf Kliniken, die aus wirtschaftlichen Gründen nicht nur Belegabteilungen schließen mussten, sondern auch in Hauptabteilungen die Zahl der ambulanten Operationen begrenzten, nennen HNO-Ärzte in Gesprächen mit dieser Zeitung.

Joshua mit seiner Mutter Rahel Lausch

Rahel Lausch hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um für ihren Sohn einen früheren OP-Termin zu ergattern.

Von „verrutschten ethischen Grundsätzen“ seitens der niedergelassenen Mediziner spricht man im Gegenzug beim GKV-Spitzenverband und bezieht sich damit auf einen Protest der HNO-Ärzte vor eineinhalb Jahren gegen die niedrigen Honorare für Eingriffe bei Kindern. Betrachte man den Brutto-Reinertrag, den jede HNO-Praxis erwirtschafte, sei es „skandalös, wenn sich ein Arzt wegen einer angeblich zu geringen Vergütung weigert, ein krankes Kind zu behandeln“, schreibt der Spitzenverband auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Und: „Unseres Wissens wurde im Juli der Protest der HNO-Verbände beendet.“ Man spricht von einer „längst überfälligen Entscheidung.“ Das Verständnis für „derlei Aktivitäten“ hört in dem Moment auf, „wo der Kampf um Partikularinteressen auf dem Rücken der Patientinnen und Patienten ausgetragen wird“.

Es ist absurd, dass man mit so einer Kinder-OP weniger verdient als beispielsweise ein Handwerker allein für die Anfahrt berechnet
Jens Hoffmanns, Kölner HNO-Arzt

Geändert hat sich seit dem Ende der Proteste nichts. Die Vergütung hat sich nicht erhöht, die betroffenen Kinder hören weiter schlecht. Die Fronten bleiben verhärtet. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach rüffelte in einem Interview mit der Bild am Sonntag: „Kinder leiden zu lassen, um höhere Honorare zu erpressen, ist unethisch und inakzeptabel.“ Beim Bundesgesundheitsministerium weist man auf Anfrage dieser Zeitung darauf hin, dass alle von den Krankenkassen zugelassenen Vertragsärzte unabhängig von der Lukrativität „verpflichtet“ seien, Versicherten die notwendige medizinische Behandlung zukommen zu lassen. Verstöße könnten seitens der Krankenversicherungen mit „verschiedenen Disziplinarmaßnahmen“ geahndet werden.

„Es geht nicht darum, dass wir mit dem Einsetzen der Paukenröhrchen zu wenig Geld verdienen“, sagt der HNO-Arzt Gregor Steffen im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Wir zahlen sogar drauf.“ Etwa 250 Euro gewähren die Kassen für einen Eingriff, davon müsse der Anästhesist bezahlt werden, zudem drei Pflegekräfte für OP, Narkose und Aufwachraum sowie das sterile Material für die OP. Mietet der Arzt einen Operationssaal, fallen laut Steffen nochmal 150 bis 300 Euro Mietgebühr pro Stunde an.

Kalkuliert wird eine OP-Zeit von 15 Minuten, allerdings sind Operateur, Anästhesist und Saal bei Kindernarkosen laut Steffen im Schnitt „dreimal so lange gebunden“. Eine kürzere Taktung wäre bei Kindern praktisch unmöglich. „Kindernarkosen sind mit einem erhöhten Risiko verbunden. Was mache ich denn, wenn ich die nächste OP begonnen habe, während beim ersten Kind die Sauerstoffsättigung abfällt? Wir können das Tempo nicht auf Kosten der Sicherheit steigern“, sagt Steffen.

Bei Kindernarkosen kommt es immer wieder zu Zwischenfällen

Der Kölner HNO-Arzt Lars Hoffmanns sagt, er schaffe an einem Vormittag drei Kinderpatienten. Nach Abzug der Kosten blieben ihm davon insgesamt etwa 150 Euro. Währenddessen gingen ihm die Einnahmen aus der normalen Sprechstunde durch die Lappen, seine Miete und sein Personal für die niedergelassene Praxis muss er aber dennoch weiterbezahlen. „Es ist absurd, dass man mit so einer Kinder-OP weniger verdient als beispielsweise ein Handwerker allein für die Anfahrt berechnet“, sagt Hoffmanns. Auch beim Aktionsbündnis Patientensicherheit merkt man auf Anfrage an, Leistungen müssten „zumindest kostendeckend bezahlt werden“.

Ob das in diesem Fall passiere und ob über Gewinne aus anderen Leistungen querfinanziert werde, könne man nicht beurteilen. Wichtig sei vor allem der Aspekt Sicherheit: „Da es immer wieder bei ambulanten Kindernarkosen zu Zwischenfällen kommt und besonders auch zu Todesfällen, fordern wir im Sinne der Patientensicherheit, dass insbesondere die Finanzierung für qualifiziertes und ausreichendes Personal“ sichergestellt ist.

Dabei ist die Unzufriedenheit mit dem Honorar den beiden Ärzten zufolge gar nicht das alleinige Problem. Es mangle schlicht an Kapazitäten. Bis zum vergangenen Jahr habe man etwa 400 Kinder und damit schätzungsweise ein Drittel aller Kölner Fälle im Krankenhaus Porz operiert, sagt Steffen. Die Klinik hat aber im vergangenen Sommer die HNO-Abteilungen aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen. Bei den Kölner Augustinerinnen ist die HNO-Belegabteilung seit diesem Juli Geschichte. Auch mehrere andere Abteilungen sind im Landeskrankenhausplan nicht mehr berücksichtigt worden, was schlicht zu einem großen Verlust an OP-Kapazitäten geführt hat.

Hoffmanns sagt: „Ich habe etwa zehn Vormittage im Jahr die Möglichkeit, im Evangelischen Krankenhaus in Kalk Paukenröhrchen zu setzen. Mehr Termine bekommen wir gar nicht.“ Kollege Gregor Steffen behandelt einige Kölner Kinder seit der Schließung in Porz als Honorararzt in Gummersbach. „Dabei bleiben manche Kinder aus den sozialen Brennpunkten von Porz auf der Strecke, da die Familie kein Auto hat.“

Grundsätzlich gingen die beiden Kölner HNO-Ärzte ohnehin konservativ vor. „Jedes Kind hat mal einen Paukenerguss. Wir kontrollieren das erstmal alle paar Wochen und gucken, ob sich die Lage im Ohr verändert. Manchmal hat sich das Problem nach drei Monaten von selbst erledigt“, sagt Hoffmanns. Kollege Gregor Steffen setzt bei dringendem OP-Bedarf auch schon mal auf eine örtliche Betäubung in der eigenen Praxis. „Das geht aber nur bei älteren und entspannten Kindern, denen man gut zureden kann. Schließlich dürfen sie sich während der Behandlung keinesfalls bewegen.“

Joshua hat sich mit seiner Schwerhörigkeit weitgehend gut gelaunt arrangiert. Seine Strategie: Das Defizit überspielen. „Wenn seine Freunde ihn etwas fragen, antwortet er einfach irgendwas. Auch wenn er sie gar nicht verstanden hat“, sagt Lausch. Gehänselt werde er nicht, was auch die Mutter froh macht.

Die lange Wartezeit wollte sie dennoch nicht hinnehmen. Sie hat sich also ans Telefon gesetzt und alle Kliniken in der Region abtelefoniert. Sie hat im Bekanntenkreis rumgefragt, ob irgendjemand jemanden kennt. Sie hat Facebook-Bettel-Posts erstellt. Ihre Hartnäckigkeit wurde belohnt: Am 22. Dezember hat Joshua nun einen OP-Termin. Die Ärztin hat ihn in ihre Mittagspause gequetscht. An Heiligabend kann die Weihnachtsmusik dann wieder auf beschaulich friedliche Lautstärke runtergedreht werden. Und auch dem Beginn der Fußballkarriere sollte nichts mehr im Wege stehen.