„Polizei ist Institution ohne Kontrolle“Recherchen legen Gewalt von Beamten offen
Köln – Der Fall von Sven W., der am Rande des Christopher Street Days 2016 von Polizisten geschlagen, getreten, beleidigt und in Gewahrsam genommen wurde, hatte für großes Aufsehen gesorgt. Ursprünglich selbst wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt auf der Anklagebank, war der junge Mann von drei Gerichtsinstanzen in allen wesentlichen Punkten freigesprochen worden.
Amts- und Landgericht sahen es als sehr wahrscheinlich an, dass zwei Polizeibeamte unverhältnismäßig Gewalt angewendet und sich womöglich sogar schwerer Straftaten im Amt schuldig gemacht hatten. Der Richter am Landgericht hatte sich bei dem Angeklagten entschuldigt und gesagt, er schäme sich für einen Staat, der sein Gewaltmonopol derart missbrauche.
Buch weist über Kölner Fall hinaus
Trotzdem hatte die Staatsanwaltschaft sämtliche Freisprüche für Sven W. nicht akzeptiert. Zur Verwunderung auch des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht, der vergeblich versucht hatte, sich ohne Revision mit der Generalstaatsanwaltschaft zu einigen. Der Fall beschäftigte auch den Düsseldorfer Landtag und das Präsidium des Landgerichts.
Die freie Journalistin Christina Zühlke und Reporter Jan Keuchel vom „Handelsblatt“, die gemeinsam mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ seit dem ersten Prozesstag am Amtsgericht über die Prozesse gegen Sven W. berichteten, haben ihre Langzeitrecherche als Buch veröffentlicht.
Fehlen der Polizei Kontrollinstanzen?
„Tatort Polizei – Gewalt, Rassismus und mangelnde Kontrolle“ (C. H. Beck-Verlag) heißt der Titel, der nahe legt, dass Zühlke und Keuchel nicht nur Beobachter geblieben sind. Ihre These lautet, dass der Polizei wirksame Mechanismen fehlten, um rassistische, rechtsextreme oder unverhältnismäßig aggressive Beamte auszusortieren. Sie glauben: Die Polizei sei „eine Institution ohne Kontrolle“.
Am Mittwoch, 6. Juli, 20.15 Uhr, liest Zühlke in der Thalia-Buchhandlung am Neumarkt aus dem Buch. Gemeinsam mit dem Journalisten Stephan Anpalagan diskutiert sie über Polizeigewalt, auch in Verbindung mit Rechtsextremismus und Rassismus.
Keine unabhängige Beschwerdestelle
Die Polizei und die weisungsgebundene Staatsanwaltschaft fielen als Kontrollinstanzen für Missbrauch innerhalb der Behörde aus, weil sie nicht unabhängig seien, schreiben Zühlke und Keuchel. Beschwerdestellen für Bürgerinnen und Bürger existierten in vielen Bundesländern – so auch in Nordrhein-Westfalen – nicht. In NRW bleibe Betroffenen nichts anderes übrig, als sich bei der Polizei selbst über Polizeigewalt oder Polizeirassismus zu beschweren. Eine fachlich versierte Institution außerhalb der Polizei gebe es nicht.
Sven W. hatte demnach großes Glück. Nicht nur, dass mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, dem „WDR“ und dem „Handelsblatt“ von vornerein drei große Medien über den Fall berichteten und viele weitere folgten; auch Investigativjournalist Günter Wallraff und der ehemalige Landtagsabgeordnete Bernhard von Grünberg (SPD) beobachteten den Prozess – von Grünberg intervenierte auch bei Behörden und konfrontierte Landespolitiker mit dem Fall.
Zudem sagte eine ehemalige Polizeischülerin gegen ihre damaligen Kollegen aus und belastete diese, dem Angeklagten Gewalt angetan zu haben. Ein Umstand, den der Richter am Landgericht als seltene Zivilcourage würdigte – immerhin stellte sich die Zeugin damit gegen ihre eigene Behörde und die dort herrschenden Loyalitätsvorstellungen.
Der Angeklagte erhielt schließlich 15.000 Euro Schmerzensgeld vom Land NRW. Das Ermittlungsverfahren gegen die beiden Polizisten wurde gegen geringe Geldbußen eingestellt.
Die meisten Betroffenen erstatten keine Anzeige
Zühlke und Keuchel gehen in ihrem Buch über die Prozesse gegen Sven W. hinaus. Sie sprechen mit Tobias Singelnstein, Jura-Professor in Bochum, der eine breit angelegte Studie zu Polizeigewalt durchgeführt hat, die unter anderem zu dem Ergebnis kommt, dass nur neun Prozent der Menschen, die sich von Polizeigewalt betroffen fühlen, diese überhaupt anzeigen – viele von ihnen gaben an, Angst zu haben, sonst selbst angezeigt zu werden. (Wie es auch bei Sven W. geschehen war.)
Die Autoren sprechen mit ehemaligen Polizisten über Linientreue, Korpsgeist und Gewalt innerhalb der Behörde; sie blicken auf ähnlich gelagerte Fälle von Polizeigewalt, werfen einen Blick in andere Länder und deren Umgang mit Straftaten im Amt, reden mit dem Innenminister von Thüringen und anderen Politikerinnen und Politikern. Ihr Fazit lautet: Das Polizeisystem muss reformiert werden, um Gewalt, Rechtsextremismus und Rassismus besser zu erkennen und zu sanktionieren.
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Christina Zühlke und Jan Keuchel haben sich im Laufe ihrer Recherchen auf die Seite des Angeklagten Sven W. geschlagen. Sie teilen im Wesentlichen seine Sicht der Dinge – und die Einschätzungen der Richterinnen und Richter. Ihr Report ist bei aller akribischen Recherche subjektiv gefärbt. Für diejenigen Polizistinnen und Polizisten, denen es vor allem darum geht, ihre Behörde im hellsten Licht erscheinen zu lassen, ist das Buch womöglich ein Ärgernis.
Bestenfalls befeuert das Buch eine Diskussion
All jene, die glauben, eine Polizeireform sei notwendig, um den Missbrauch des Gewaltmonopols innerhalb der Behörde besser in den Griff zu bekommen, sollten die Recherchen unbedingt lesen. Bestenfalls kann das Buch eine Diskussion innerhalb der Polizei befeuern.