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Projekt „Kurve kriegen“Wie die Kölner Polizei Jugendliche vor dem Knast bewahren will

Lesezeit 4 Minuten

Mit dem Projekt „Kurve kriegen“ versuchen Polizei und Sozialarbeiter, junge Menschen von der kriminellen Bahn abzubringen – vier Beispiele.

Die Polizei nennt sie offiziell „Botschafter“ der Initiative „Kurve kriegen“– und ihre Botschaft an Eltern und ihre Kinder, die auf die schiefe Bahn abzurutschen drohen, lautet: „Holt euch Hilfe – bevor es zu spät ist. Wir wissen, wovon wir sprechen.“

Amaru, Chris, Lionel und Cristiano heißen nicht wirklich Amaru, Chris, Lionel und Cristiano. Aber weil alle vier eine kriminelle Vergangenheit haben und gerade versuchen, im Leben wieder Fuß zu fassen, möchten sie unter diesen Namen in der Zeitung stehen und auf den Fotos nicht erkennbar sein. Das waren die Bedingungen für die Berichterstattung.

Amaru, Cristiano, Lionel und Chris auf dem Weg in ein geregeltes Leben

Auf Anfrage hat die Polizei ein Gespräch mit den vier Heranwachsenden vermittelt. Amaru ist 22 Jahre alt, die anderen 19. Sie kommen aus Buchheim, Vingst, Chorweiler und Leverkusen. Viel hätte nicht gefehlt, dann hätten sich die Vier möglicherweise im Jugendknast kennengelernt. Denn alle eint eine kriminelle Karriere, die schon im Kindesalter begonnen hat und die vermutlich im letzten Moment gestoppt werden konnte. Heute leben die vier straffrei und sind auf dem Weg in feste Berufe und in ein geregeltes Leben.

Zu verdanken – das sagen sie selber – haben sie das in erster Linie den Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen verschiedener sozialer Träger, die für „Kurve kriegen“ arbeiten, ein Präventionsprogramm des Innenministeriums, das die Polizei in inzwischen 40 Behörden im Land umsetzt. Köln war 2011 eine der ersten.

Maren Leisner von der Polizei Köln hält das ausgedruckte lange Strafregister eines jugendlichen Intensivtäters in der Hand.

Maren Leisner von der Polizei Köln hält das ausgedruckte Strafregister eines jugendlichen Intensivtäters in der Hand.

Insgesamt 126 Teilnehmer (fast alle männlich) haben das Projekt seitdem hier durchlaufen, 50 weitere absolvieren es aktuell. 60 Prozent seien bislang mit einer „guten Sozialprognose“ entlassen worden, sagt Maren Leisner von der Polizei. 13 Teilnehmer haben sich aller Bemühungen zum Trotz zu so genannten jugendlichen Intensivtätern entwickelt.

Oft sind es Lehrer, das Jugendamt, manchmal auch Eltern oder eben die Polizei selbst, die erkennen, wenn Kinder zwischen acht und 15 Jahren gefährdet sind, auf die kriminelle Schiene abzugleiten und sie für „Kurve kriegen“ vorschlagen. Die Polizei trifft eine Auswahl, wer als Teilnehmer geeignet sein könnte und bespricht sich mit dem Sozialarbeiterteam der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Anschließend werden Gespräche mit dem Kind und seinen Eltern geführt - sind alle einverstanden, startet die gemeinsame Arbeit.

Die Teilnahme an „Kurve kriegen“ ist kostenlos und freiwillig, der Jugendliche kann jederzeit aussteigen. „Deshalb ist es entscheidend, dass wir eine gute und vertrauensvolle Beziehung zueinander aufbauen“, sagt etwa Puya Bagheri, Leiter der Kreativwerkstatt von „Outline“ in Chorweiler, das „Kurve kriegen“ als so genannter Drittanbieter unterstützt.

Der Sozialpädagoge Heiko Wegner, der mit den kriminellen Kindern und ihren Familen arbeitet, steht vor dem Jugendzentrum Outline in Chorweiler.

Sozialpädagoge Heiko Wegner arbeitet mit den kriminellen Kindern und Jugendlichen und ihren Familen.

Bei „Outline“ können die Teilnehmer zum Beispiel unter Anleitung von Profis Graffiti sprühen oder Musik im Tonstudio aufnehmen. Die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen der AWO halten engen Kontakt zu den Teilnehmern. Sie sprechen mit ihnen über Schul- oder andere Probleme, gehen auch in die Familien, reden mit Eltern und Geschwistern, vermitteln Kontakte zu Sportvereinen, Jugendzentren oder Freizeitangeboten wie Fußball oder Basketball.

„Es braucht oft erst einmal drei bis sechs Monate, bis das Vertrauen zueinander da ist und wir stabil in den Familien verankert sind“, berichtet Sozialpädagoge Heiko Wegner von der AWO. Sehr oft gehe es darum, die Jugendlichen zu motivieren, in die Schule zu gehen und ihnen so etwas wie eine Tagesstruktur zu geben. „Viele kennen das ja gar nicht“, sagt Wegner.

Schule schwänzen, draußen abhängen, mit Freunden Scheiße bauen – so hätten sie einen Großteil ihrer Kindheit verbracht, erzählen Amaru, Cristiano, Chris und Lionel. Dabei kam nicht immer nur Gutes heraus. Mit zehn oder elf Jahren hatten die vier jeweils zum ersten Mal Kontakt zur Polizei. Mit 14 ist man in Deutschland strafmündig, „Kurve kriegen“ versucht daher, so früh wie möglich anzusetzen. Es ist ein Projekt für die jungen und jüngsten. Wer 18 ist, muss „Kurve kriegen“ wieder verlassen.

Intensivtäter hinterlässt bis zu 100 Opfer und 1,7 Millionen Euro Schaden

Kriminelle Karrieren unterbinden und gleichzeitig Opferschutz betreiben – das seien die Hauptziele der Initiative, sagt Maren Leisner von der Polizei.

Wissenschaftler haben ausgerechnet, dass ein „Intensivtäter“ bis zu seinem 25. Lebensjahr bis zu 100 Opfer hinterlässt und einen gesellschaftlichen Folgeschaden von 1,7 Millionen Euro anrichtet – die Gehälter von Polizisten, Staatsanwältinnen, Richtern, Sozialarbeiterinnen, Haftplätzen und Gefängnispersonal inklusive, sagt Bernd Reuther von der Kölner Polizei, der ebenfalls bei dem Gespräch mit den vier Heranwachsenden dabei ist.

„1,7 Millionen? Krass. Da habt ihr viel Geld mit mir gespart“, platzt es aus Lionel heraus. Tatsächlich koste ein Teilnehmer von „Kurve kriegen“ 11 000 Euro pro Jahr, sagt Maren Leisner. Auch wirtschaftlich rechne sich der Aufwand also „auf jeden Fall“. Amaru, Chris, Lionel und Cristiano sind absolute Positivbeispiele. Sie dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Jugendkriminalität weiterhin ein Thema in Köln ist.

Zwar gab es vor Jahren und Jahrzehnten noch deutlich mehr Fälle als heute. Dem Vernehmen nach sind die Zahlen aber zuletzt wieder etwas angestiegen. Einzelheiten gibt die Polizei bald mit der Veröffentlichung der jährlichen Kriminalstatistik bekannt.