AboAbonnieren

Suizide, Depressionen, EssstörungenKölner Schulen fühlen sich alleine gelassen und fordern „dringend Hilfe“

Lesezeit 7 Minuten
Ein Mädchen hält sich beide Hände vor das Gesicht.

Immer mehr Schülerinnen und Schüler an den Kölner Schulen haben psychische Probleme.

Die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit psychischen Problemen wächst weiter - obwohl die Pandemie abflaut. Die Kölner Schulen sehen ein Dauerproblem und fordern, dass die Politik nicht länger weg sieht.

Kölner Schulleitungen wollen nicht länger schweigen. Nie hatten so viele ihrer Schülerinnen und Schüler psychische Probleme. Auch wenn nach den Einschränkungen der Pandemie nach außen Normalität in der Schule eingekehrt ist: Für das Innenleben sehr vieler Kinder und Jugendlichen gilt das nicht. „Allein an unserer Schule haben während der Pandemie zwei Schüler Suizid begangen“, sagt Antje Schmidt, Schulleiterin des Albertus-Magnus-Gymnasiums in Ehrenfeld.

Für Schmidt ist das nur die Spitze des Eisbergs, wenn sie in der Schülerschaft auf die wachsende Zahl mit Depressionen oder Ess- oder Angststörungen sieht. „Was tust du, um so etwas künftig zu verhindern?“, diese Frage treibe sie an. Genauso wie Winfried Schneider, Oberstufenleiter der Katharina-Henoth-Gesamtschule in Höhenberg. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit Sozialphobien, Panikattacken oder solche, die massive Fehlzeiten haben oder einfach nicht mehr auftauchen, sei sehr hoch. „Und das ebbt einfach nicht ab.“

42 Prozent mehr Jugendliche mit emotionalen Störungen eingeliefert

An dem Runden Tisch, den Schneider in Eigeninitiative ins Leben gerufen hat, berichten alle Beteiligten aus Kölner Schulen unisono, dass psychische Problemen weiter zunähmen. Der letzte Woche veröffentlichte Jugendreport der DAK-Krankenkasse bestätigt das: Demnach sind allein 2022 die Zahl der Jugendlichen, die mit einer emotionalen Störung ins Krankenhaus aufgenommen werden mussten, im Vergleich zum Vorjahr um 42 Prozent gestiegen. Die Zahl der stationär behandelten depressiven Episoden stieg im gleichen Zeitraum um 28 Prozent, die Essstörungen bei den 15- bis 17-Jährigen um 17 Prozent. In der Trendstudie des Jugendforschers Klaus Hurrelmann „Jugend in Deutschland Herbst/Winter 2022/23“ gaben 25 Prozent der Befragten an, mit ihrer psychischen Gesundheit unzufrieden zu sein. 10 Prozent berichteten, schon einmal Suizidgedanken gehabt zu haben.

Man spüre einfach diese innere Unruhe, von der viele Schülerinnen und Schüler erfasst seien, und eine geringere Konzentrationsfähigkeit, berichtet Schmidt. Die Wahrnehmung ist, dass Corona nur ein Auslöser war und man es mit einem Dauerproblem zu tun hat, das dringend präventiv angegangen werden muss: Kern ist die Herausforderung, in einer Welt groß zu werden, in der man rund um die Uhr digital unterwegs ist und in der Krisen – Krieg, Klima und Inflation - das Gefühl der Unsicherheit zum Dauerzustand machen. Das mache etwas mit Kindern und Jugendlichen.

Kölner Schulen rufen um Hilfe

Kölner Schulen rufen nun um Hilfe, weil sie sich mit den Problemen alleingelassen fühlen– zumal angesichts von Lehrermangel und übervollen Lehrplänen kaum Ressourcen für individuelle psychische Unterstützung blieben. „Dabei hat der deutsche Ethikrat im Dezember genau hier die Finger in die Wunde gelegt und für Kinder und Jugendliche eindringlich einen Ausbau psychologischer und anderer Hilfsangebote gefordert“, erinnert Schneider.

In den aktuellen Empfehlungen des Ethikrates an die Politik heißt es, geschultes Personal müsse an Schulen eingesetzt werden, um frühzeitig die seelischen Nöte der jungen Generation zu erkennen und Hilfsangebote vermitteln zu können. Die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen sei „zu lange im toten Winkel der öffentlichen Aufmerksamkeit“ geblieben, sodass aus psychischen Belastungen oft „manifeste Erkrankungen“ geworden seien.

Psychische Gesundheit ist Voraussetzung für gutes Lernen
Antje Schmidt, Schulleiterin des Albertus-Magnus-Gymnasiums in Ehrenfeld

Genau diese niedrigschwellige, frühzeitige und präventive Hilfe halten die Schulen für zentral. „Wir brauchen Unterstützung. Und zwar sofort, direkt vor Ort, niedrigschwellig und langfristig finanziert. Psychische Gesundheit ist Voraussetzung für gutes Lernen“, fasst Schulleiterin Schmidt zusammen. Dass es längst nicht an jeder Schule – ganz unabhängig von Art und Klientel - eine Schulsozialarbeiterstelle gibt, ist für beide ein Unding. Zumal die psychischen Probleme wirklich überall virulent seien. Die wenigen Schulsozialarbeiter, die es gebe, seien völlig überlastet. Die Schulleitungen fordern – neben einem klaren Netzwerk, in dem alle Hilfsangebote gebündelt werden - Workshops zum Thema psychische Gesundheit zur Prävention für alle Kölner Schulen.

„Weil von außen nichts kommt, ergreifen wir die Initiative“, so Schmidt. Schneider, der in dem Thema unermüdlich engagierte Lehrer, hat jetzt an seiner Schule die Thementage „Psychisch stark“ für die Jahrgangsstufe 12 organisiert - mit Unterstützung der Bezirksschüler*innenvertretung und des Kölner Jugendrings. Dabei gibt es diese Woche erstmals über zwei Tage Workshops zu den verschiedensten Themen, wie etwa ein Krisenchat mit Kinder- und Jugendpsychotherapeuten zum Thema Schlaf und Psyche.

Kern aber ist die Kooperation mit dem Präventionsprogramm „Verrückt! Na und?“ des Vereins „Irrsinnig menschlich e.V.“, das in dem Workshop einfache und wirksame Wege aufzeigt, wie Schüler Krisen meistern und ihre seelische Gesundheit stärken können. Auch der Verein „Kopfsachen e.V.“ ist mit am Start, der vermittelt, wie man mental gesund bleibe und konstruktiv Konflikte löst. Für den Workshop hat Schneider selbst Sponsoren geworben und die Finanzierung in Eigenregie gesichert.

Sein Ziel ist, dass solche Modellworkshops an allen Kölner Schulen angeboten werden. Das Programm „Verrückt! Na und?“ ist bereits in vielen Bundesländern im Einsatz, um Depressionen zu verhindern, bevor sie sich verfestigen. Auch in Kommunen wie etwa Leverkusen oder Dortmund ist das Programm fest etabliert und hat sich bewährt. In Köln gibt es dies bislang nicht, weil es vom Konzept her zwingend an einen Träger gebunden sein muss.

Selbst den Trägerverein hat Schneider nun in Eigenregie ausfindig gemacht: Der Kölner Verein für Rehabilitation e.V. hat sich angeboten, Regionalpartner für das Schulprogramm „Verrückt? Na und!“ zu werden und eine Regionalgruppe in Köln aufzubauen. Die SPD hat das Anliegen nun politisch aufgegriffen, um zu erreichen, dass die Stadt den Schülerinnen und Schülern im Bereich mentale Gesundheit Unterstützung bietet. In einem Antrag für den nächsten Schulausschuss lässt die Fraktion darüber abstimmen, dass das präventive Konzept von „Verrückt? Na und!“ durch den Aufbau der Regionalgruppe für alle Kölner Schulen etabliert wird. Außerdem solle die Verwaltung prüfen, ob dafür die erforderliche Fachkraft kurzfristig finanziert wird.


„Wie war's in der Schule?“ Abonnieren Sie hier unseren Newsletter für Familien und Lehrende in der Kölner Region – immer mittwochs.


Beratung und Seelsorge in schwierigen Situationen

Kontakte | Hier wird Ihnen geholfen Wir gestalten unsere Berichterstattung über Suizide und entsprechende Absichten bewusst zurückhaltend und verzichten, wo es möglich ist, auf Details. Falls Sie sich dennoch betroffen fühlen, lesen Sie bitte weiter: Ihre Gedanken hören nicht auf zu kreisen? Sie befinden sich in einer scheinbar ausweglosen Situation und spielen mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen? Wenn Sie sich nicht im Familien- oder Freundeskreis Hilfe suchen können oder möchten – hier finden Sie anonyme Beratungs- und Seelsorgeangebote. Telefonseelsorge – Unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichen Sie rund um die Uhr Mitarbeiter, mit denen Sie Ihre Sorgen und Ängste teilen können. Auch ein Gespräch via Chat ist möglich. telefonseelsorge.de Kinder- und Jugendtelefon – Das Angebot des Vereins „Nummer gegen Kummer“ richtet sich vor allem an Kinder und Jugendliche, die in einer schwierigen Situation stecken. Erreichbar montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr unter 11 6 111 oder 0800 – 111 0 333. Am Samstag nehmen die jungen Berater des Teams „Jugendliche beraten Jugendliche“ die Gespräche an. nummergegenkummer.de. Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention – Eine Übersicht aller telefonischer, regionaler, Online- und Mail-Beratungsangebote in Deutschland gibt es unter suizidprophylaxe.de Beratung und Hilfe für Frauen – Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen" ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Nummer 08000 116 016 und via Online-Beratung unterstützen werden Betroffene aller Nationalitäten rund um die Uhr anonym und kostenfrei unterstützt. Psychische Gesundheit – Die Neurologen und Psychiater im Netz empfehlen ebenfalls, in akuten Situationen von Selbst- oder Fremdgefährdung sofort den Rettungsdienst unter 112 anzurufen. Darüber können sich von psychischen Krisen Betroffene unter der bundesweiten Nummer 116117 an den ärztlichen/psychiatrischen Bereitschaftsdienst wenden oder mit ihrem Hausarzt Kontakt aufnehmen. Außerdem gibt es in sehr vielen deutschen Kommunen psychologische Beratungsstellen.