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„Reason to rock“ in KölnEin Festival, um über Tod zu reden und das Leben zu feiern

Lesezeit 4 Minuten
Reason to rock

Lotti Großhans und Zeina Augustiniak organisieren das „Reason to Rock“-Festival im Odonien. 

  1. Am Samstag findet im Odonien ein Festival statt, das es in Deutschland so noch nie gegeben hat. Initiiert haben es zwei junge Frauen, die eine 19, die andere 20 Jahre alt.
  2. Im Mittelpunkt stehen zwei Themen, über die hierzulande kaum geredet wird: Suizid und Depression.

Köln – Zeina Augustiniak und Lotti (eigentlich Charlotte) Großhans möchten das Schweigen brechen und im Rahmen der Musikveranstaltung etwas zusammenbringen, was vielleicht erstmal unvereinbar klingt: Über den Tod reden und das Leben feiern. Sie nannten den Event „Reason to rock“. Dass zwei so junge Frauen das Thema Sterben aufgreifen, wirkt auf den ersten Blick überraschend.

Wie sie selber herausgefunden haben, ist es das aber gar nicht. Von ihren 400 Mitschülern hatten vier schon ernsthafte Suizidgedanken. Und Depression sei in ihrer Generation ebenfalls kein Fremdwort. Lotti ist auf der Nordseeinsel Juist aufgewachsen, Zeina hat libanesische Wurzeln und stammt gebürtig aus Ratingen.

Begegnet sind sie sich in Köln auf dem Weg zu ihrem Traumberuf. Sie wollen Veranstaltungskauffrau werden und besuchen deshalb das Joseph-DuMont-Berufskolleg. Lotti absolviert den praktischen Teil ihrer Ausbildung in einem Konzertbüro, Zeina in der Live Music Hall. Beide sind somit bereits dicht am Musikgeschehen und im Kontakt mit Künstlern. Irgendwann hörte Zeina von Shaun Morgan. Der Amerikaner ist Sänger der Band „Seether“ und Initiator des „Rise Above Fest“, das seit 2012 jährlich in den USA stattfindet. Dabei geht es unter anderem um Suizid-Prävention. Morgan hat dieses Festival seinem Bruder gewidmet, der 2007 Suizid beging, indem er sich von einem Hochhaus stürzte.

„Jeder Jugendliche hatte schon mal das tiefe Loch“

Bei der Veranstaltung im Odonien gehe es „nicht primär um das Thema Tod, sondern auch um die Depression dahinter“, betont Lotti. „Da stehen junge Leute total mit in Kontakt. Jeder Jugendliche hatte schon mal das tiefe Loch.“ Jeder habe sich schon mal alleine gefühlt und dann den Gedanken durchgespielt: „Was wäre, wenn es mich nicht mehr gäbe?“ Auch sie wisse, was es heiße, in einer schweren depressiven Phase zu sein, sagt Zeina, der die unterschiedlichen Gesichter dieser Krankheit sehr bewusst sind. Was beide Frauen in dem Zusammenhang unglaublich finden, ist die allgemeine Sprachlosigkeit. „Das ist nicht nur ein Tabu-Thema, das Thema ist schlichtweg nicht existent.“ „Wenn man das anspricht, wird es abgeblockt“, betont Lotti. „Die Leute wollen damit nichts zutun haben.“ Weshalb nicht? „Depressionen bedeuten Probleme.“

Ursache für die rigorose Ausblendung sind in ihren Augen die Zwänge, die von den sozialen Medien ausgehen und durch diese erzeugt würden. „Diese Social-Media-Welt ist echt krank!“, sagt Lotti. Es werde ausschließlich das schöne Leben nach außen projiziert. „Es wird nur Positives ausgestrahlt. Und wenn man mal einen schlechten Tag habe, werde das Handy beiseite gelegt. „Da redet keiner drüber. Keiner sagt: mir geht es heute kacke!“ Es herrsche „ganz furchtbarer Druck“. Die Jungs und Mädels, die sich permanent positiv nach außen zeigen müssten, merkten gar nicht mehr, „was das wahre Leben ist“. In dem Zusammenhang erzählt Lotti von einem Mädchen, das sie im Rahmen einer Sommerfreizeit in Ostfriesland erlebt habe. „Die war geschminkt, ist in kürzesten Klamotten über den Platz gelaufen“ und habe sich nicht mal in den Sand gesetzt. „Die hat geraucht und getrunken, und die war erst zwölf!“

Lotti kennt solche Freizeiten aus der Betreuerinnen-Rolle. „Es ist krass!“ Und es fängt immer früher an, dass die Kinder sich die falschen Vorbilder nehmen.“ Zeina: „Es ist wie in einem Theaterstück. Gespielt wird die Rolle des blühenden Lebens.“ Eingeständnisse wie: „Heute ist nicht mein Tag, ich will einfach nur im Bett bleiben“, verstünden die anderen nicht. Wer anders aussehe, vielleicht Segelohren habe oder sich einfach nur anders kleide, werde verhöhnt. „Mobbing ist ein großer Faktor, der Jugendliche ins Aus schießt. Wer das schon als junger Mensch kennengelernt hat, hat später immer größere Probleme, aus seiner Außenseiterrolle herauszukommen“, glaubt Zeina, die mit dieser Schlussfolgerung wieder den Bogen zur Depression zieht. „Uns geht es so auf den Nerv, dass alles immer so verherrlicht wird.“

Lotti und Zeina haben unter Mitschülern eine schriftliche, anonyme Befragung durchgeführt, wer bereits an Selbstmord gedacht hat –vier von 400 gaben es zu. Das entspricht der Statistik. „Jedes Jahr sterben in Deutschland etwa 10 000 Menschen an Suizid, jeder sechste Bundesbürger ist direkt oder indirekt davon betroffen. Außerdem leiden rund vier Millionen Menschen an depressiven Erkrankungen“, hätten sie herausgefunden. Die Dunkelziffer sei enorm – ein Grund mehr, das Schweigen zu brechen.

Klasse hat eine Crowdfunding-Kampagne ins Leben gerufen

In ihrer Klasse sei ihre Initiative sehr positiv aufgenommen worden. Lehrerin Nicola Lenzen-Manstetten war begeistert. Die Klasse ist auf Sponsorensuche gegangen, hat eine Crowdfunding-Kampagne ins Leben gerufen und namhafte Organisationen wie die Robert-Enke-Stiftung oder die Deutsche Depressionshilfe für die Veranstaltung gewonnen. Es wird Informationsstände, Vorträge und Musik geben. Neun Bands machen mit, darunter „Kann Karate“ aus Berlin und „Woodship“ aus Unna.

Beide Frauen sind überzeugt, dass die Veranstaltung weitere Kreise zieht und fortgeführt wird. Was das Thema Depression, Alleinsein, Verzweiflung betrifft, haben beide für ihr persönliches Umfeld nur einen verblüffend einfachen Rat: „Dein Telefon ist nur einen Handgriff weit von dir weg. Wenn was ist, ruf an!“