Nach Nazi-RegimeWie ein Kölner Zeitzeuge von seiner Familiengeschichte erzählt
Köln-Zollstock – Wenn Miel Andriesse von seinen jüdischen Eltern berichtet, spricht er nicht aus eigener Erinnerung über seine Mutter Clara und seinen Vater Nathan. Nur auf die Erzählungen seiner Pflegefamilie, offizielle Dokumente und vereinzelte Fotoaufnahmen kann der heute 77-jährige Niederländer sich in diesen Momenten stützen.
Seine Eltern hat der als Samuel Andriesse geborene Mann mit nur eineinhalb Jahren verloren – die Nazis verschleppten sie aus den Niederlanden, deportierten sie über das Durchgangslager Kamp Westerbork in das Konzentrationslager Auschwitz und ermordeten sie dort am 31. Januar 1944 in der Gaskammer.
Besuch in der Europaschule
Anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung des Lagers hat Andriesse die Europaschule in Zollstock besucht und den Oberstufenschülern des Niederländischkurses von seiner Familiengeschichte berichtet – auf Niederländisch. Dass dies möglich ist, verdankt er der Familie Verhees, die ihn in den Wirren der NS-Zeit als Kleinkind in ihre Obhut nahm und vor den Nationalsozialisten versteckte.
Seinen jüdischen Namen musste er damals ablegen, fortan hieß er Mielte – oder kurz – Miel. Vom mutigen Handeln seiner ersten Ersatzfamilie berichtet er noch immer mit großer Dankbarkeit. „Indem sie mich aufgenommen haben, haben sie sich einer großen Gefahr ausgesetzt – für ihren Mut, mich trotz aller Drohungen der Nazis versteckt zu haben, bin ich ihnen bis heute unendlich dankbar.“
Bei Pflegeeltern bis zum vierten Lebensjahr
Bis zu seinem vierten Lebensjahr lebte Andriesse mit seinen Pflegeeltern und ihren drei Töchtern zusammen – bis ihn seine echte Großmutter ausfindig machte. „Daraufhin hat mich meine Tante väterlicherseits in die Familie Cohen geholt. Sie wollte, dass ich nach jüdischer Tradition erzogen werde, eine jüdische Familie gründe und so die jüdische Gemeinschaft stärke“, erinnert sich Andriesse. „Die Zeit bei der Familie Verhees war aber idyllisch für mich. Die Trennung von ihnen ist mir sehr schwer gefallen.“
Mit der Familie Cohen wanderte der damals 20-Jährige 1962 vorübergehend nach Israel aus. Erst 1979 kehrte er in die Niederlande zurück. Mittlerweile lebt Andriesse direkt an der belgisch-niederländischen Grenze, nahe seiner Geburtsstadt Eindhoven. Den herzlichen Kontakt zu einer seiner älteren Schwestern aus der Verhees-Familie hält er bis heute aufrecht.
Verpflichtung zum Erzählen
Seine Lebensgeschichte in Schulen, Universitäten und anderen Institutionen vorzutragen sieht Andriesse in Zeiten von aufkeimendem Antisemitismus als Pflicht an: „Ich möchte den jungen Leuten von dieser düsteren Zeit berichten und solange ich noch kann gegen das Vergessen ankämpfen“, so Andriesse. „Außerdem fühle ich, dass ich das den Verheesens schuldig bin. Nicht alle sind in dieser Zeit Nazis gewesen – auch nicht bei den Deutschen.“
Seine Anerkennung drückte er auch in der jüdischen Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem aus. Dort bewirkte Andriesse 2005 die Auszeichnung seiner Pflegeeltern Verhees für ihren beherzten Einsatz.
Niederländischkurs der Jahrgangsstufe 13
Den emotionalen Vortrag seiner Lebensgeschichte verfolgten rund 30 Schüler mit Spannung. „Ich fand die Geschichte von Herrn Andriesse sehr bewegend und interessant“, sagte Selina Redlich aus der Jahrgangsstufe 13. „Über den Holocaust und seine Folgen sollte man auch heute noch sprechen und dafür sorgen, dass so etwas nie wieder passiert.“ Auch Organisatorin Dr. Marike Wolberg, die den Niederländischkurs leitet und den Kontakt zu Miel Andriesse über das Erinnerungszentrum Kamp Westerbork herstellte, bedankte sich für seinen Besuch. „Wir würden uns freuen, ihn nochmals für einen Vortrag hier in der Europaschule begrüßen zu dürfen.“
Weitere Informationen zur Erinnerungsstätte des Durchgangslagers Kamp Westerbork und zum Schicksal der Juden in den Niederlanden gibt es im Internet.