Soziale Spannungen in Köln„Armut erreicht die Mittelschicht"
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In Deutschland sind 1,5 Millionen Menschen auf Tafeln angewiesen.
850.000 Kinder leben von Hartz-IV.
Butterwegge steht bedingungslosem Grundeinkommen skeptisch gegenüber
Köln. – Herr Butterwegge, in Deutschland gibt es 940 Tafeln für 1,5 Millionen Bedürftige. Eine überraschend hohe Zahl angesichts der seit Jahren guten konjunkturellen Lage.
Absolut. Gleichzeitig ist sie ein Indiz dafür, wie sich Armut auch in Bevölkerungsgruppen hinein ausbreitet, die früher nicht davon betroffen waren. Armut und soziale Ausgrenzung erreichen sogar Teile der Mittelschicht. Und das bekommen die Tafeln zunehmend zu spüren. Neben Flüchtlingen, die zu Tafeln kommen und zumindest an der Essener Tafel vorübergehend abgewiesen wurden, sind es zunehmend Rentnerinnen und Rentner, aber auch Menschen mit Kindern, die schlecht über die Runden kommen.
Wo sehen Sie die Ursachen für die zunehmende Armut?
Sie liegen in der zunehmenden Spaltung unserer Gesellschaft. Einerseits konzentriert sich der Reichtum in wenigen Händen. Andererseits sind erheblich mehr Menschen im Niedriglohnbereich tätig oder auf Transferleistungen angewiesen. Letztere sind häufiger gezwungen, auf Angebote wie die Tafeln zurückzugreifen, weil das Geld nicht reicht, um am 20. des Monats für sich und die Kinder noch etwas Warmes auf den Tisch zu bekommen. Es gibt allein 600 000 Alleinerziehende mit 850 000 Kindern im Hartz-IV-Bezug, die zum „Hauptkundenstamm“ der Tafeln gehören. Tafeln sehen diese Menschen als ihre Kunden, was ja auch eine Veränderung ausdrückt im öffentlichen Bewusstsein. Da wird die Realität verdrängt, dass es sich um Bedürftige handelt, die unserer Solidarität bedürfen.
Die Lohnspreizung beruht auch darauf, dass bestimmte Jobs mehr gefragt sind, andere an Nachfrage verlieren?
Die zunehmende Lohnspreizung, die Prekarisierung vieler Beschäftigungsverhältnisse und der trotz Einführung des Mindestlohns wachsende Niedriglohnsektor tragen wesentlich zur sozialen Misere von Tafelbesuchern bei. Letzterer ist das Haupteinfallstor für heutige Familien- und Kinderarmut, aber auch für spätere Altersarmut. Fehlentwicklungen auf dem Arbeitsmarkt sind nicht zuletzt der neoliberalen Annahme geschuldet, soziale Ungleichheit sei produktiv und motiviere die Menschen zur Leistung. Dabei führt sie zur Entsolidarisierung, macht die Gesellschaft anfälliger für Konflikte und schwächt den sozialen Zusammenhalt. Letztlich müssen die Tafeln ausbaden, dass im Gefolge der „Agenda“-Politik soziale Eiseskälte um sich gegriffen hat.
Sind die Tafeln eine gute Institution?
Ich habe ein ambivalentes Verhältnis zu ihnen. Auf der einen Seite sind die Tafeln notwendig und nützlich, um sozial Benachteiligten zu ermöglichen, an gesunde Lebensmittel, Obst und Gemüse zu kommen, was ihnen sonst fehlen würde. Sie können dort auch soziale Kontakte knüpfen und pflegen, was sinnvoll ist, weil Armut sozial isoliert und oft einsam macht. Insofern sind die Lebensmitteltafeln wichtige Begegnungsstätten und soziale Einrichtungen. Auf der anderen Seite erleichtern sie es der Gesellschaft und dem Sozialstaat, sich aus ihrer Verantwortung unter Hinweis darauf zurückzuziehen, dass es solche caritativen Einrichtungen gibt. Diese müssen jedoch als Notlösung begriffen werden und eine bloße Ergänzung des Sozialstaates bleiben, dürfen also keinen Ersatz für ihn bilden.
Es soll gesetzlich möglich sein, weggeworfene Lebensmittel aus Containern nehmen zu können. Daran gibt es auch Kritik, weil so Verantwortung weiter abgegeben wird und dahinter der Gedanke stehen könnte: Bedient euch doch aus der Mülltonne. Man sollte Menschen die Möglichkeiten geben, solche Lebensmittel in Anspruch zu nehmen. Arme dafür zu rechtlich zu belangen, dass sie in Containern nach Lebensmitteln suchen, halte ich genauso für einen Skandal wie die Tatsache, dass sie überhaupt auf den Griff in den Müll angewiesen sind. Eher sollte es verboten sein, dass Lebensmittel auf diese Art entsorgt werden. Große Supermärkte könnte man wie in Frankreich verpflichten, ihre abgelaufenen Produkte caritativen Einrichtungen wie den Tafeln zur Verfügung zu stellen.
Wäre ein Grundeinkommen das richtige Mittel, um der wachsenden Armut zu begegnen?
Ich stehe dem bedingungslosen Grundeinkommen sehr skeptisch gegenüber. Zwar sehe ich die Faszination, die es besonders auf Menschen ausübt, die als Arbeitslose den Papierkrieg mit dem Jobcenter leid sind und sich von dem bürokratischen Kontrolldruck befreien wollen. Ihnen erscheint es wie ein Traum, dass jeder im Monat 1000 Euro bekommen soll, ohne einen Antrag stellen und die Hosen herunterlassen zu müssen. Aus der gesellschaftlichen Perspektive eines Sozialwissenschaftlers ist das Grundeinkommen keine Lösung. Wegen der enormen Kosten, die mit ihm verbunden wären, bliebe der bestehende Sozialstaat auf der Strecke, und es widerspricht sowohl der Bedarfs- als auch der Verteilungsgerechtigkeit.
Wieso das?
Das bedingungslose Grundeinkommen gleicht einer Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip. Über allen Bewohnern würde dieselbe Geldsumme ausgeschüttet, aber gar nicht mehr gefragt, wer es denn benötigt und wer – wie ein Schwerstbehinderter – sehr viel mehr braucht. Umgekehrt braucht es jemand, der gut verdient oder vermögend ist, überhaupt nicht. Kurz gesagt: Die Reichen brauchen es nicht und für die Armen reicht es nicht. Denn 1000 Euro sind nur ein Euro mehr als die von der Europäischen Union definierte Armutsrisikoschwelle für Alleinstehende in Deutschland. Sie würde durch das Grundeinkommen steigen und wer nicht mehr hat, wäre weiter von Armut bedroht. Denn man muss davon noch die eher steigende Miete bezahlen. An den Vermögensverhältnissen würde sich auch nichts ändern.
Bundestafeltreffen
Das 23. Bundestafeltreffen findet noch bis zu heutigen Samstag in Köln statt. An der Mitgliederversammlung der Tafeln in Deutschland nehmen rund 700 Aktive teil. Bundesweit gibt es 947 Tafeln, Nordrhein-Westfalen ist mit 169 Tafeln der Landesverband mit den meisten Mitglieds-Tafeln. Die Delegierten haben ihren neuen Vorstand gewählt und über Zukunftsstrategien beraten. „Die Umverteilung, die wir bei den Tafeln praktizieren, muss sich endlich auch in der politischen Debatte wiederfinden, denn es zeigt sich, dass die Klimafrage und die sozialen Ungleichheiten nur mit echten Visionen eines Zusammenlebens beantwortet werden können“, sagt der Vorsitzende der Tafel Deutschland, Jochen Brühl.
100 Meter lange Tafel auf dem Heumarkt
Am Samstag wird eine rund 100 Meter lange Tafel auf dem Heumarkt aufgebaut. Kunden, Spender und Unterstützer sollen zu kölschen Spezialitäten an einem Tisch zusammen sitzen. Rund 1000 Gäste werden erwartet, auf der Bühnen stehen die „Domstürmer“, Alexander Wehrle, Geschäftsführer des 1. FC Köln, und Schauspieler der „Lindenstraße“. Oberbürgermeisterin Henriette Reker wird die lange Tafel eröffnen. Die Unternehmen Rewe und Penny spenden 23 Tonnen Lebensmittel. (og)