Studieren in Köln„Erasmus ist ein durchschlagender Erfolg“
- Der Brite Alan Smith war bei der Gründung des Studien-Austausch-Programms vor 32 Jahren dabei.
- Vier Millionen Menschen haben es mittlerweile absolviert.
- 27 Prozent der Studenten hat einen Partner über Erasmus gefunden.
Köln – Herr Smith, Erasmus gehört zu den unbestrittenen Erfolgsgeschichten der Europäischen Union. Angefangen hat sie vor mehr als 30 Jahren. Sie waren bei der Entstehung dabei. Wie kam das?
Längst vor Erasmus war ich selbst Auslandsstudent. Ich stamme aus England, studierte in London Germanistik und musste einen Teil des Studiums in Deutschland verbringen. An der Uni Marburg von 1968 bis 1970 – ein prägendes Erlebnis! Nach dem Studium hatte ich meinen ersten Job in der Internationalen Abteilung der Rektorenkonferenz in Bonn. Das war ein großes Glück für mich. Ich wechselte 1978 zu einem Bildungsinstitut in Paris, das den Auftrag hatte, das allererste Hochschulprogramm der EU mit aufzubauen.
Wie muss man sich das vorstellen?
Vor allem klein. Wir waren für die praktische Durchführung der „Gemeinsamen Studienprogramme“ zuständig. Anfangs gab es nur mich und eine Halbtagssekretärin!
Wie reagierten denn die Hochschulen?
Wir mussten zum Teil erhebliche Widerstände abbauen. Ich erinnere mich an den Besuch in einer altehrwürdigen Hochschule in Großbritannien. Ich ging zum Fachbereich Anglistik und schlug einen Studenten-Austausch vor. Die Antwort war: „Wozu denn?“
Was sagt man da?
In solchen Departments war es, ehrlich gesagt, eine Knochenarbeit, zu erklären, warum Begegnungen eine Bereicherung sind. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Aber es gab auch viele Hochschuldozenten, die Feuer und Flamme für die Idee waren. Nach ungefähr zehn Jahren waren in diesem Programm rund 500 Fachbereichspartnerschaften entstanden. Tausende Dozenten waren hin und her gegangen und viele Freundschaften wurden geknüpft, die bis heute halten. Was noch fehlte, waren Studentenstipendien im großen Stil.
In welchem Zustand war damals Europa?
Die frühen 80er Jahre waren eine schwierige Zeit. Die Wirtschaft stagnierte, die Mitgliedstaaten taten sich schwer, positive Entscheidungen für Europa zu treffen. Die Briten verlangten große Zugeständnisse im Bereich der Finanzen. Die Rolle der EG in Bildungsfragen stand auf wackligen Füßen. Bewegung in die Sache kam Mitte der 80er Jahre unter dem Kommissionspräsidenten Jacques Delors, und zwar vor allem mit dem verbindlichen Zeitplan für die Vollendung des Europäischen Binnenmarkts, der 1991 im Maastrichter Vertrag und der Schaffung der „Europäischen Union“ mündete. Das klingt sehr technokratisch, aber die Entscheidung hatte eine sehr stimulierende Wirkung auf alle Bereiche.
Was ist Erasmus?
Das Erasmus-Programm ist ein Förderprogramm der Europäischen Union und gehört zum weltweit größten Austauschprogramm an Hochschulen. Das Programm feierte 2017 sein 30-jähriges Bestehen. Seit dem Jahr 2014 heißt das Programm Erasmus+ und umfasst auch andere Bildungsbereiche. Die Hochschulzusammenarbeit wird in Deutschland vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) verwaltet.www.daad.de
Also auch auf die Bildungsarbeit?
Es war klar, dass man sich nicht in einen Binnenmarkt verliebt. Wenn man sich mit Europa identifizieren will, dann muss man Europa spüren. Die Menschen müssen sich mit dem Herz und nicht nur mit dem Verstand verbinden. Um Vorteile eines gemeinsamen Binnenmarkts zu genießen, müssen Menschen Europa als ihr natürliches Handlungsfeld empfinden. Diese beiden Aspekte – das Europa der Bürger und die Heranbildung europäischer Humanressourcen – ich hasse das Wort – waren der Beweggrund für ein groß angelegtes Austauschprogramm.
Und trotzdem wäre das Projekt beinahe gescheitert. Wieso?
Die Verhandlungen dauerten 18 Monate. Die Kommission war sehr ehrgeizig. Sie wollte das Budget gleich verzehnfachen und das Programm mit qualifizierter Mehrheit durchbringen. Deutschland hatte rechtliche Vorbehalte und auch Frankreich tat sich in einigen Punkten schwer. Vor allem aber: Die Briten wollten nicht so viel Geld ausgeben und schlugen vor, die Gesamtmittel zwar anzuheben aber die Studentenstipendien zu streichen. Doch ein Studentenaustausch ohne Stipendien ist wie ein Pub ohne Bier. Schließlich waren die Probleme so groß, dass die Kommission von ihrem Recht Gebrauch machte, den Programmvorschlag schlicht zurückzuziehen. Erasmus war zunächst vom Tisch.
Zur Person
Alan Smith, 71, war mehrere Jahre lang in der Europäischen Kommission tätig, unter anderem als Koordinator der EU-Programme Erasmus (Hochschule), Grundtvig (Erwachsenenbildung) und Comenius (Schule). Er leitete die Erasmus-Durchführung in den Jahren 1987 bis 1992. Heute lebt er mit seiner Frau in Bonn.
Waren Sie bei der entscheidenden Sitzung dabei?
Im Vorraum. Ich erinnere mich, wie Kommissar Marin damals zu einer der Telefonzellen ging und mit Delors sprach. Sein Motto war, ganz oder gar nicht. Als der Rückzug bekannt wurde, herrschte blankes Entsetzen. Doch die Strategen behielten Recht. Sie hatten die Lage richtig eingeschätzt und ihr politisches Kalkül ging auf. Die Hochschulen wollten unbedingt starten und die Studenten machten Druck. Kurze Zeit später wurde der Vorschlag wieder eingebracht und kam durch. Die Verabschiedung war sicher einer der bewegendsten Momente in meinem Berufsleben.
Mit allem, was man brauchte?
Ja. Zehn Millionen Euro im ersten Jahr, im zweiten Jahr 25, im dritten 50. Heute gehen die Ausgaben in die Hunderte von Millionen Euro jährlich. Wir hatten allerdings nach dem Programmbeschluss am 15. Juni 1987 nur noch zwei Wochen bis zur Umsetzung. Die ersten Erasmus-Studenten standen ja in den Startblöcken. Die ersten müssten heute übrigens um die 55 Jahre alt sein. Erschreckend – aber auch ermutigend, da der „Geist von Erasmus“ in ihrem professionellen und privaten Umfeld weiterlebt!
Ist Erasmus auch in Ihren Augen eine reine Erfolgsgeschichte?
Es gibt immer wieder Hochschulen, die im Kleinen zu viel Bürokratie beklagen. Aber bei den Summen, braucht es eine gewisse Verwaltung. Was die großen Ziele betrifft, ist es in meinen Augen ein durchschlagender Erfolg. Mehr als vier Millionen Studenten haben bis heute an dem Programm teilgenommen, darunter mehr als eine halbe Million Deutsche. Damit ist uns eine gewisse Demokratisierung in der internationalen Ausbildung gelungen. Sie schließt alle Mitgliedstaaten der EU und auch weitere Länder mit ein und kommt den Studierenden aller Fächer zugute. Und auch wenn Stimmen sagen, dass eher die besser Situierten gehen, geben das die Zahlen nur sehr bedingt her. Erasmus gehört übrigens zu den Programmen, die auch für Länder geöffnet werden, noch bevor sie der EU beitreten. Die Türkei zum Beispiel gehört schon lange dazu.
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Wie prägend ist die Erfahrung, die ein Erasmus-Student macht?
Studien zeigen, dass Studierende mit Auslandserfahrungen doppelt so häufig einen Job innerhalb eines Jahres nach dem Studienabschluss finden. Fast doppelt so viele sind im späteren Leben über die nationalen Grenzen hinweg beruflich mobil und was Europa angeht: Über 80 Prozent nehmen an Wahlen zum Europarlament teil, verglichen mit nur 30 Prozent der Studierenden, die im Heimatland bleiben. Ich finde natürlich vor allem interessant, dass Erasmus einen Beitrag zur Entstehung einer echten „europäischen Gesellschaft“ geleistet hat.
Woran machen Sie das fest?
27 Prozent der Erasmus-Studierenden lernen während des Auslandsaufenthalts ihren Lebenspartner kennen. Mindestens eine Million Babys sind aus Erasmus-Beziehungen hervorgegangen und ich behaupte mal, dass vor allem diese Familien keinen Krieg führen würden. Es ist jetzt vielleicht altmodisch über Friedenssicherung zu sprechen, aber gerade in Zeiten wie unseren, wo nationalistische und rechtspopulistische Parteien an Boden gewinnen, nehmen viele den Status quo viel zu selbstverständlich.
Könnte Erasmus als Integrationsinstrument noch mehr leisten?
Auf jeden Fall. Was viele nicht wissen: Erasmus hat sich auch auf andere Bildungsbereiche ausgeweitet. Als ich studierte, waren zehn Prozent eines Jahrgangs in der Hochschule. Heute liegt die Studienanfängerquote bei mehr als 50 Prozent. Aber was ist mit den anderen? Europäisch zu sein ist für Schüler, Auszubildende und Bürger generell doch genauso wichtig. Die versucht das Programm „Erasmus+“, wie es heute heißt, zu erreichen. Und deshalb habe ich mich bis zum Ende meiner Karriere in der Kommission für das EU-Programm in der Erwachsenenbildung stark gemacht.
Wer weiß davon?
Zu wenige. Das Budget ist auch noch sehr klein. Das Potenzial des Programms für die Verstärkung des Europa-Gefühls quer durch die Gesellschaft wird immer noch unterschätzt. Dabei können alle Arten von Erwachsenenbildungseinrichtungen von den Volkshochschulen bis hin zu Strafvollzugsanstalten daran teilnehmen. Einige haben dies auch schon getan und es das Leben vieler Menschen verändert.
Sie sind Brite und Europäer. Wie sehr schmerzt Sie der Brexit?
Sehr. Ich habe nach dem Brexit-Referendum die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt – nicht nur aus pragmatischen Erwägungen, sondern vor allem, weil ich weiterhin EU-Bürger bleiben will. Ich bin jetzt fast 72 und immer noch Europa-Enthusiast. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich die EU für fehlerfrei halte – weit davon entfernt. Aber für die EU insgesamt wie auch für das Erasmus-Programm gilt trotzdem: Gäbe es sie nicht, müsste man sie spätestens jetzt erfinden. #html
Das Gespräch führteIna Henrichs