Jugendliche Systemsprenger„Die Zahl der extremen Fälle in Köln steigt“
- Minderjährige „Systemsprenger“ bringen Pädagogen, Ärztinnen und Polizisten an ihre Grenzen - und darüber hinaus.
- Prof. Stephan Bender ist Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Köln.
- Im Intervierw erklärt er, wie Kinder zu „Systemsprengern“ werden, wie man ihnen helfen kann und was dafür notwendig wäre.
Köln – Was genau ist ein „Systemsprenger“ oder eine „Systemsprengerin“?Stephan Bender: Ich sage lieber: Kinder und Jugendliche mit komplexem oder doppeltem Hilfebedarf. „Sprengen“ hat immer gleich diesen negativen Touch. Was der Begriff allerdings schon richtig suggeriert, ist, dass die üblichen Verfahren und Standards in der Jugendhilfe und der psychotherapeutisch-medizinischen Versorgung nicht ausreichen, um diesen individuellen Ausnahmefällen gerecht zu werden. Mit einem einzelnen stationären Aufenthalt im Krankenhaus sind die Probleme jedenfalls nicht zu beheben. Aber solche so genannten Systemsprenger sind glücklicherweise immer nur drastische Einzelfälle.
Wie viele „Systemsprenger“ gibt es denn in Köln?
Wir haben in Köln ungefähr fünf bis zehn neue sehr schwierige Fälle pro Jahr, die uns in der Klinik erreichen, darunter sind ein oder zwei sogenannte Systemsprenger. Wir gehen aber davon aus, dass es durch die Corona-Pandemie eine gewisse Tendenz gibt zu mehr Stress bei Kindern und Jugendlichen und dadurch auch eine Tendenz, dass die Zahl der extremen Fälle angestiegen ist.
Was ist typisch für das Verhalten eines „Systemsprengers“?
Oft hat man es mit einer emotional instabilen Persönlichkeit zu tun. Morgens ist man noch total gut drauf, und plötzlich kippt das, und man weiß nicht, warum. Man fühlt sich stark unter Druck, ist traurig, niedergeschlagen. Man will sich immer den nächsten Kick holen, um von seiner eigentlichen emotionalen Problematik abzulenken. Das kann von U-Bahn-Surfen gehen bis hin zu sexuell promiskuitivem Verhalten oder Drogenkonsum. Häufig erleben wir auch Selbstverletzungen oder Suizidversuche. Auch fremdaggressives oder kriminelles Verhalten kann vorkommen.
Was Sie beschreiben, trifft – jedenfalls in Ansätzen – auch auf eine ganz gewöhnliche pubertäre Phase zu. Wo liegt der Unterschied?
Entscheidend ist das Ausmaß. Wenn eine Art emotionaler Dauerkriegszustand entsteht, wenn man sich nicht wieder einkriegt, dann wird es quälend und problematisch. Es müssen zwei Punkte zusammenkommen: Erstens eine biologische Disposition dafür, dass man seine Emotionen nicht gut regulieren kann, sondern eher impulsiv reagiert, also schnell auf 180 ist. Und das Zweite ist, dass man darüber hinaus zum Beispiel viele Beziehungsabbrüche erlebt hat, häufig chronische Traumatisierungen, also nicht ein einziges schlimmes Ereignis, sondern immer wieder schwierige Situationen, die sich aufsummieren. Das kann von Vernachlässigung gehen bis hin zu Misshandlung oder völliger Nichtversorgung.
Sind mehr Mädchen oder mehr Jungen betroffen?
Die emotionale Instabilität finden wir eher bei Mädchen. Bei Jungs schwanken Emotionen zwar auch, aber Jungen fallen seltener mit Suizidversuchen und Selbstverletzungen auf, sondern mit Drogenkonsum oder weil sie anderen auf die Nase hauen. Jungs landen eher im Knast als in der Klinik. Beide Geschlechter sind betroffen, allerdings im Durchschnitt in anderer Form.
Wie erleben Sie die betreffenden Kinder? Spüren sie selber einen hohen Leidensdruck?
Da gibt es große Unterschiede. Nehmen wir das klassische Jungs-Stereotyp, die sagen eher: „Nö, mein Problem sind die anderen, an mir liegt es nicht.“ Die andere Haltung, die sich in Selbstverletzung und Suizidversuchen ausdrückt, entspringt dagegen einem klaren Bewusstsein: Mir geht es schlecht, ich habe einen hohen Leidensdruck, ich hätte gerne jemanden, der für mich zuständig ist, eine sichere Bindung zu anderen und gute Freunde, habe aber null Ahnung, wie ich das hinkriege. Wir gehen davon aus, dass der Leidensdruck bei allen hoch ist, gut geht es keinem. Nur manche drücken es auch aus, andere betäuben es mit Substanzkonsum oder Aggressivität gegenüber anderen.
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Braucht jeder Systemsprenger immer medizinische Hilfe?Ich gehe davon aus, dass in der weit überwiegenden Zahl der Fälle eine psychotherapeutische Versorgung notwendig ist. Denn die üblichen pädagogischen Maßnahmen greifen irgendwann nicht mehr. In der Therapie versuchen wir erst einmal, die Kinder in der Gegenwart zu stabilisieren, bevor wir die Vergangenheitsbewältigung angehen. Und dann arbeiten wir nach vorne gerichtet: Das möchte ich lernen, das möchte ich konstruktiv verbessern, so kann ich mein Verhalten ändern. Unter Umständen kann man auch medikamentös eingreifen, damit Dinge umsetzbar werden.
Bei dem Mädchen, das voriges Jahr in Köln gleich zwei Jugendämter und dazu Pädagoginnen, Ärzte, Psychologinnen und Polizisten monatelang auf Trab gehalten hat, gelangten alle irgendwann an ihre Grenzen. Sind die Hilfesysteme mit solchen Fälle überfordert? Was fehlt?
Was in Köln schon gut läuft, ist, dass Jugendhilfe und Krankenhaus sich vernetzen und versuchen, an einem Strang zu ziehen und die Systemgrenzen zu überwinden. Ein Krankenhaus kann Kinder zwar über einen längeren Zeitraum geschützt unterbringen, aber ein Krankenhaus ist auch kein Ort, wo jemand lange sein sollte. Alle sollen im echten Leben zurechtkommen. Und selbst in unserem geschützten Krankenhausbereich haben wir nur sieben Betten zur Verfügung. Wir können keine Patienten über Jahre hinweg behandeln. Wo wir uns noch sehr schwer tun: Eine geschlossene Unterbringung für Minderjährige ist in NRW nach dem Rheinischen Modell nur für maximal 14 Tage zulässig, das ist häufig zu kurz, um dauerhafte Veränderungen einzuleiten.
Warum ist das so?
Ich kann auf der einen Seite nachvollziehen, dass man sagt: Wir möchten das pädagogisch und über eine positive Betreuung lösen statt mit knastähnlichen Strukturen. Dieser Ansatz ist prinzipiell gut, er führt aber bei Jugendlichen, die immer wieder weglaufen, die sich allen Hilfestellungen entziehen und fremdaggressive Ausbrüche zeigen, an Grenzen. Auch im vorliegenden Fall des Mädchens in Köln wurde ja vieles versucht: mit einem Security-Dienst, extra angemieteten Räumen und einer ganz individuell gestrickten Einzelbetreuung.
Wir würden uns aber deutlich leichter tun, wenn wir für solche extremen Fälle eine Infrastruktur vorhalten würden, damit man nicht jedes Mal neue Räume anmieten und ein neues Team aufstellen muss. Das kostet Zeit und Ressourcen. Wir müssen auch den sehr schwierigen Fällen angemessen Rechnung tragen – und zwar mit einer Qualitätskontrolle und einer klaren pädagogischen Zielsetzung. Wünschenswert wäre, die Kinder und Jugendlichen nach der Phase der intensiven Einzelbetreuung direkt in eine offenere Form der Betreuung überführen zu können.
Bräuchte es für solche Einrichtungen neue Gesetze?
Nein, die gesetzlichen Grundlagen sind gegeben, da geht es nur maximal um neue Verordnungen oder Richtlinien. Aber auf der politischen Ebene müsste der klare Wille formuliert werden, dass man das umsetzen möchte. Für einen Träger wäre es im Augenblick sehr schwierig, geeignetes Personal für eine solche Einrichtung zu finden. Die pädagogischen und pflegenden Tätigkeiten gehören zu den Mangelberufen. Und wenn sie den Leuten sagen, wir machen hier eine Einrichtung auf, mit den schwierigsten der schwierigen Jugendlichen, und außerdem werdet ihr noch total schlecht bezahlt, und wir machen das auf der grünen Wiese, weil in Köln alle Räumlichkeiten zu teuer sind, dann funktioniert es nicht. Es braucht eine hinreichende Finanzierung, es braucht Träger, die bereit sind, sich der Problematik anzunehmen und die in der Lage sind, ausreichend qualifiziertes Fachpersonal zu akquirieren.
Gibt es solche Einrichtungen in anderen Bundesländern?
Ja, in Bayern und Baden-Württemberg zum Beispiel gibt es viel größere Möglichkeiten als in NRW. Teilweise bringen wir Kinder von hier auch dort unter. Wir exportieren unsere NRW-Probleme gewissermaßen in andere Bundesländer.
Wie viele Plätze müsste eine solche geschlossene Einrichtung in Köln oder in NRW vorhalten?
Schwer zu sagen. Für ganz NRW denke ich an 50 bis 100 Plätze. Wir sollten die schwierigen Fälle auch nicht alle in einer einzigen Mammuteinrichtung ghettoisieren. Die Einrichtungen sollten dezentral über das Land verteilt sein. Eher kleine Einheiten, angedockt an andere Settings, um inklusiv arbeiten zu können. Vielleicht jeweils maximal fünf oder sechs Plätze. Aber das ist nur eine geschätzte Zahl. Man müsste sich das im Rahmen einer Studie einmal fundierter angucken.