Dr. Armin Claus, kommissarischer Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Köln-Holweide, fordert mehr Hilfen für gewaltbereite Heranwachsende in NRW. Ein Gastbeitrag.
Gastbeitrag von Kölner Facharzt„Immer jüngere und heftiger gewaltbereite Kinder und Jugendliche“
Eine der zentralen Fakten des Artikels „Jung und gewaltbereit“ vom 29. November über Kinder und Jugendliche, die sich im Internet radikalisiert haben und Gewaltverbrechen planen, lautet: Für Jugendliche mit hohem Gewaltpotenzial und offenbar sehr hohem Bedarf an qualifizierter stationärer Jugendhilfe kann in ganz Nordrhein-Westfalen (NRW) kein auch nur halbwegs bedarfsgerechter Platz gefunden werden. Die Verantwortung für ihre weitere Entwicklung wird auf die Sorgeberechtigten zurückverlagert, die in aller Regel keine entsprechend qualifizierten Pädagogen und Therapeuten sind und daher mit dieser Situation umfassend überfordert sein müssen.
Dieses akute Beispiel für eine eigentlich katastrophale Mangelversorgung kommt leider nicht überraschend. Seit Jahren vergrößert sich in den kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken und Fachpraxen im Kölner Raum und darüber hinaus das Fallaufkommen immer jüngerer, gegen sich wie auch gegen andere immer heftiger gewaltbereiter Kinder und Jugendlicher.
Dabei sind es nicht nur akute Fremdgefährdungen wie Amoklaufandrohungen, sondern auch vielfach Probleme wie Drogenmissbrauch, tage- und nächtelanges Weglaufen, sexuelles Risikoverhalten, oftmals kombiniert mit langstreckiger Schulverweigerung, die bezüglich des Unterstützungsbedarfs weit über die Möglichkeiten der betroffenen Familien und der herkömmlichen ambulanten Jugendhilfe hinausgehen. Oftmals sind es im Kindesalter erlittene Traumata durch körperliche und/oder seelische Gewalt und Vernachlässigung, die zu schwerwiegenden Bindungsstörungen in Verbindung mit den oben genannten hochgradig gefährlichen Problemsymptomen führen.
Eine immer höhere Anzahl so betroffener Kinder und Jugendlicher kann nur durch eine intensive und lang dauernde Beziehungsarbeit in entsprechend baulich, finanziell und materiell gut ausgestatteten Jugendhilfeeinrichtungen Schritt für Schritt aus den Folgen der erlittenen Traumata und Fehlprägungen und damit auch aus ihrer Gewaltbereitschaft hinausbegleitet werden. Dazu gehört zur Verhinderung beständiger Beziehungsabbrüche durch Weglaufen auch die Möglichkeit, so stark beeinträchtigte Kinder und Jugendliche durch entsprechende bauliche und personelle Maßnahmen an Weglaufen und Gewaltausübung zu hindern.
Die verantwortlichen Institutionen des Landes NRW, prominent in der Verantwortung hierbei das Landesjugendamt, haben sich trotz zahlreicher entsprechender Rückmeldungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht dazu entschließen können, entsprechende stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe mit der oben beschriebenen Ausstattung zu schaffen. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte wurden buchstäblich Hunderte so führungs- und unterstützungsbedürftige Minderjährige in andere Bundesländer oder in Auslandsmaßnahmen „exportiert.
Der Artikel „Jung und gewaltbereit“ beschreibt nun eindrücklich die Folgen dieser Situation, nämlich das Fehlen eines bedarfsgerechten und ausreichend intensiven Jugendhilfeplatzes für den erwähnten Jugendlichen. Diese eklatante Mangellage stellt ein wachsendes Risiko für die damit unversorgten betroffenen Minderjährigen, ihre Familien, aber letztlich immer mehr auch für die gesamte Gesellschaft dar. Die Finanzierung ausreichend intensivpädagogisch wie therapeutisch ausgestatteter Jugendhilfeeinrichtungen ist dabei mit Sicherheit kostengünstiger als die spätere Finanzierung jahrzehntelanger Haftplätze und die Finanzierung der gesellschaftlichen Kosten für die Versorgung zahlreicher Opfer und deren Angehörigen.
Dr. Armin Claus ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Leitender Oberarzt und kommissarischer Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Köln-Holweide.