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Interview über Risikopersonen mit LKA-Ermittler„Der junge Kölner ist ein außergewöhnlich schwieriger Fall“

Lesezeit 6 Minuten
Eine Person steht allein in der Innenstadt. Das Centrum für Strategie und Höhere Führung und das Institut für Demoskopie Allensbach präsentieren den Sicherheitsreport 2023. +++ dpa-Bildfunk +++

Das Programm Periskop identifiziert Menschen in NRW, von denen eventuell eine Gefahr ausgeht.

Boris Vieten spricht über seine Arbeit, die das Ziel hat, gewaltbereite Personen mit Risikopotenzial frühzeitig zu erkennen.

Boris Vieten leitet das Projekt und die Zentralstelle Periskop beim Landeskriminalamt (LKA) NRW. Periskop steht für Personen mit Risikopotenzial. Nach etlichen Taten durch psychisch auffällige Amoktäter schuf Landesinnenminister Herbert Reul eine Art Frühwarnsystem für dieses Phänomen mit einer Zentralstelle im LKA und Stellen in jeder der 47 Kreispolizeibehörden mit etwa 160 Mitarbeitern. Hier spricht der Kriminaloberrat über die Arbeitsweise und die besonderen Herausforderungen, um unter anderem auch junge seelisch kranke Attentäter zu erkennen.

Herr Vieten, ein 13-Jähriger aus Köln ruft im Netz zu Attentaten gegen Flüchtlingsheime auf, er fällt in seiner Schule und bei den Sicherheitsbehörden als labiler Extremist auf. Wie geht man mit so einem Fall um?

Boris Vieten: Zunächst sei gesagt, dass sich das Projekt Periskop in erster Linie mit einer Risikogruppe beschäftigt, die aufgrund ihrer psychischen Probleme und/ oder weiterer Risikofaktoren womöglich zu Handlungen wie einer Amokattacke imstande sein könnten. Dabei mischt sich die Gewaltbereitschaft mitunter auch mit politischen oder religiösen Motiven. Sobald dies der Fall ist, kommt auch der Staatsschutz ins Spiel. Oft genug geschieht es, dass wir nach gründlicher Prüfung des Sachverhalts die Verdachtsfälle tauschen. Die Ermittlungen rund um militante Radikale gehen zum Beispiel über in die Zuständigkeit der politischen Abteilung und umgekehrt. Der junge Kölner Rechtsextremist ist ein außergewöhnlich schwieriger Fall, der insbesondere zeigt, dass wir es mit einem wachsenden Problem zu tun haben. Gerade bei dieser Klientel sind interessante Parallelen zu verzeichnen.

Dieser Amoklauf steht bis heute bei gewaltbereiten Personen mit Risikopotenzial ganz hoch im Kurs
Boris Vieten über den Amoklauf an der Columbine-Schule im Jahr 1999

Und zwar welche?

Einige verherrlichen das Columbine-Massaker in den USA aus dem Jahr 1999, bei dem zwölf Schüler starben. Dieser Amoklauf durch die zwei Abschlussschüler, den 18-jährigen Eric Harris und den 17-jährigen Dylan Klebold, steht bis heute bei gewaltbereiten Personen mit Risikopotenzial ganz hoch im Kurs.

Warum?

Die empfundene heroische Selbstdarstellung und der propagierte „Erfolg“ haben regelrechten ikonischen Wert, gerade auch in einschlägigen Foren. Die beiden Mörder hatten zudem antisemitische oder rassistische Parolen auf ihre Waffen geschrieben. Diese Sätze kopieren manche junge Internet-User. Folglich stellt sich uns immer die Frage, sind dies potenzielle Amoktäter oder Fälle für den Staatsschutz? Da verschwimmen die Grenzen. Oft gehört die rechtsradikale Ideologie nur wie ein Annex zur allgemeinen Gewaltbereitschaft. Wir prüfen diese Risikokandidaten jeweils einzeln detailliert in Fallkonferenzen mit vielen anderen Beteiligten kommunaler Behörden als auch mit hauseigenen Psychologen durch.

Können Sie Beispiele nennen?

Da gab es etwa einen Hinweis aus einem anderen Bundesland auf einen Schüler in NRW, der mit einem Gesinnungsgenossen in einem Eins-zu-Eins-Chat die beiden Columbine-Todesschützen und Gedankengut verherrlichte. Wir hatten den Jugendlichen zunächst nicht auf dem Schirm, aber der war bereits bei anderen Behörden auffällig geworden. Es stellte sich heraus, dass die Beiden so viele Menschen wie möglich töten wollten. In dem Chat übernahmen die zwei Jugendlichen auch jeweils die unterschiedlichen Rollen der Columbine-Attentäter. Der NRW-Jugendliche gab den Ton an. Er träumte davon, dass man nach einem krassen Amoklauf von ihnen beiden Avatare für ein Ego-Shooter-Spiel kreieren würde. Sein Partner verhielt sich hingegen eher devot. Immer mehr steigerten sie sich in ihre gewaltbereite Fantasiewelt. Die Pläne scheiterten allein schon, weil die Schüler gar keine Waffen hatten. Wir haben dann als Polizei schnell eingegriffen. Als Polizei folgen wir dabei einem Grundsatz: Erkennen – Bewerten – Handeln. Und wir legen den Schwerpunkt auf eine niedrigschwelle Früherkennung von Risikofaktoren sowie qualifizierte Bewertung. Hierbei werden nicht nur Polizisteninnen und Polizisten, sondern auch Wissenschaftler eingesetzt.

Wie laufen Konferenzen über solche Fälle ab?

Oft initiiert die Polizei diese Fallkonferenzen. Denn häufig bekommen wir als erste die Nase an solche psychisch auffälligen Menschen dran. In diesen Runden beraten etwa Vertreter der Staatsanwaltschaft, aus den Jugend-, Gesundheits-, Schul- oder Ausländerämtern, hauseigene Psychologen bis hin zur JVA-Vollzugsbeamten über den Risikokandidaten, um sich ein besseres Bild zu machen. Gerade bei Jugendlichen geht es um den geistigen Gesundheitszustand und die Frage, wie können wir ihnen gemeinsam helfen? Ist ein Schulbesuch noch möglich oder muss der Betroffene in eine geschlossene Einrichtung? Am Ende solcher Zusammenkünfte stehen eine Risikobewertung und ein Maßnahmenbündel, um diese jungen Menschen wieder in die Spur zu bekommen. Hierbei ist es mir wichtig zu betonen, dass eine psychische Auffälligkeit oder Erkrankung nicht grundsätzlich für Gefährlichkeit steht.

Wie viele Risikokandidaten beziffert das Programm?

Zunächst einmal sei bemerkt, dass es sich nicht zwingend um tickende Zeitbomben handeln muss. Der Ansatz des Projekts Periskop ist es, Menschen, von denen womöglich ein Risiko ausgehen könnte, mit individuell erforderlichen Maßnahmen zu unterstützen. Insgesamt hat Periskop 2800 Personen überprüft, davon 146 Heranwachsende, 249 Jugendliche und 73 Kinder. Langfristig beobachten wir 700 Personen, davon ist nur ein sehr geringer Teil minderjährig.

Experten bemängeln gerade für psychisch auffällige junge Menschen das dürftige Angebot stationärer Einrichtungen, wie ist da ihre Erfahrung?

Das ist leider so. Gerade bei Kindern und Jugendlichen wird es schwierig. Pubertät, schwieriges Elternhaus und der Druck in der Schule erzeugen immer mehr Herausforderungen, und da gilt es, diese Menschen wieder zu stabilisieren und in normale Lebensabläufe zu bringen. Das ist auch das Ziel von Periskop, diese Risikokandidaten – seien es Kinder, Jugendliche oder Erwachsene – etwa in eine Stabilisierung, zum Beispiel Therapieplätze, hineinzubringen. Bundesweit existieren zu wenig Einrichtungen für die sich häufende Zahl psychisch schwieriger Fälle. Für auffällige junge Leute ist das Angebot viel zu gering.

Welche Folgen ruft dieser Mangel hervor?

Denken Sie mal an die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen auf manche Schülerinnen und Schüler. Wir hatten 2022 den Fall einer 14-jährigen Jugendlichen, die sich in den zwei Jahren zuvor komplett isoliert hatte und den ganzen Tag über in ihrem Zimmer hing. Das Mädchen verließ den Klassenraum, ging zur Mädchentoilette und holte ein im Spülkasten deponiertes Messer hervor, kehrte zurück und rammte einer Klassenkameradin die Klinge in den Hals. Bevor die Täterin nochmals zustechen konnte, ging die Lehrerin dazwischen und verhinderte Schlimmeres. In der Vernehmung bekannte die Schülerin, dass sie so viele Menschen verletzen wollte, wie möglich. Es war anzunehmen, dass die Täterin unter einer seelischen Störung litt. Eine sofortige forensische Unterbringung scheiterte an einer forensischen Unterbringungsmöglichkeit für junge Mädchen. Nach einigen Zwischenstation und zwei psychiatrischen Begutachtungen landete das 14-jährige wieder bei ihren Eltern. Das Gericht hatte zwar die Auflage verhängt, die Jugendliche sollte sich einer ambulanten Therapie unterziehen. Mangels spezieller Kinder- und Jugendpsychiater ist es schwierig ad hoc einen Platz zu finden. Da fallen mitunter Wartezeiten von einem Jahr an.

Wie bekam man das Problem in den Griff?

Es gab auf Bestreben der Polizei eine Fallkonferenz, denn wir konnten das Mädchen ja nicht ein Jahr unbehandelt draußen laufen lassen, weil die Hilfe bei einem so jungen Menschen ja im Vordergrund stehen sollte. Unter Einbindung von anderen, zuständigen Behörden konnte dann glücklicherweise ein individuelles Interventionskonzept vereinbart werden. Mit dem Ziel einer nachhaltigen Stabilisierung und Hilfe.