Die Kölnerin Eva Klemps erhielt erst zehn Jahre nach der Operation des Tumors eine Diagnose. Viele Menschen wendeten sich in der Zwischenzeit ab. Aus der Serie „Der Moment“.
Der Moment„Wie Bein amputiert und keiner sieht es“ – Kölnerin verlor ihr Gedächtnis nach Hirn-Operation
Eine sportliche, jünger als 79 aussehende Frau ist sie, dezent geschminkt, offener Blick. Sie erzählt konzentriert und ohne zu stocken, völlig normal, wie man gleich denkt. Genau dieser Gedanke – „völlig normal“ – ist das Problem. Das zum Bruch vieler Beziehungen geführt hat. Zum Rausschmiss bei Hausärzten, zur Abkehr von Freunden. Zum Verlust ihres Vertrauens in die Welt. Sie sagt: „Ich habe seit der Tumoroperation vor 23 Jahren immer wieder die Erfahrung gemacht, nicht verstanden zu werden, und mache sie bis heute.“
Als Eva Klemps von dem Moment erzählt, der ihr Leben so stark verändert hat, gerät sie ins Stocken, die Augenränder färben sich rot. Die Veränderung nach ihrer Hirnoperation, sagt sie, sei oberflächlich nur schwer zu erkennen – „und viele Menschen wollen sie wohl auch nicht wahrnehmen“. Auf ihrer linken Stirnseite ist ein winziger Hügel zu sehen. Die Haut ist an dieser Stelle straffer, sie spannt. Klemps streicht mit dem Zeigefinger über die Stelle. Wer nichts von ihrer Geschichte weiß, sieht da nicht hin.
Tod der Mutter, Brustkrebs, Hirntumor: 2001 war das Horrorjahr der Kölnerin Eva Klemps
Eva Klemps leidet unter einem Frontalhirnsyndrom – die Folge eines gutartigen Tumors und dessen Operation am Frontallappen des Gehirns. Im Jahr 2001 ist das Meningeom kurz nach der Diagnose entfernt worden. „Mein Horrorjahr“ nennt sie 2001. Im Mai starb plötzlich ihre Mutter, 90, aber topfit, nach einer Hüft-OP und folgendem Schlaganfall. Die Tochter glaubt bis heute an einen medizinischen Fehler. „Ich war voller Wut, da sie den Schlaganfall unmittelbar nach einer aus meiner Sicht viel zu schnellen Flüssigkeitsinfusion bekommen hatte.“
Eva Klemps hatte als Krankenschwester und Krankengymnastin gearbeitet. Später als Referentin für einen Pharmakonzern. Sie kannte sich aus – und ging den Ursachen von Krankheiten oder Komplikationen immer auf den Grund.
Nach dem Tod der Mutter und dem Tod eines Bruders sei es zu Erbschaftsstreitigkeiten gekommen, „so wie man es aus den schlimmsten Geschichten kennt“. Mittendrin erhielt sie nach einer Vorsorgeuntersuchung im Juni die Nachricht, Brustkrebs zu haben. Zwei Wochen nach der OP machte sie eine Knochenszintigraphie. Bei der Durchsicht der Bilder entdeckte der Arzt einen Schatten im vorderen Bereich des Schädels. „Haben Sie sich während der Aufnahme an die Stirn gefasst“, habe er gefragt. Nein. Wenig später die Nachricht: Es ist ein Tumor. Gutartig zwar, müsse aber sofort operiert werden.
„Der Arzt sagte, er dürfe mich nicht mehr Auto fahren lassen, weil ich einen Kopftumor habe“, sagt Eva Klemps. Sie erinnere sich eigentlich an nichts. „Aber dieser Satz ist mit so vielen Gefühlen verbunden, dass er geblieben ist.“ Bei der Bemerkung habe der Arzt ihr den Rücken zugedreht, kurz darauf einen „Guten Tag“ gewünscht.
Nach der Operation des Meningeoms war Klemps zwei Jahre krankgeschrieben. Sie habe sich schlecht gefühlt, alles vergessen, der Großteil ihrer Erinnerungen war weg, das Kurzzeitgedächtnis fast völlig. Freunde wunderten sich, wie zerstreut sie war. „Und meine Töchter dachten wohl: Mama war doch immer die Starke. Ich wollte das weiter sein. Aber es ging nicht mehr.“
Der erste Neurologe riet zu Antidepressiva – der Tod der Mutter, die eigene Krankheit, der Streit, das sei alles zu viel gewesen. Dazu psychotherapeutische Betreuung. Sie habe geahnt, dass das nicht alles sein könne, sagt Klemps, aber das, was sie über ihre Symptome sagen konnte, habe den Ärzten wenig gesagt. „Die Forschung zu den Folgen von Frontallappenschäden war vor mehr als 20 Jahren noch ganz am Anfang.“ Also sei sie von Arzt zu Arzt gelaufen.
Vergleicht mit der Sportmoderatorin Monica Lierhaus
Wenn sie heute Fremden erklären soll, was mit ihr sei, nimmt sie das Beispiel von Monica Lierhaus, der bekannten Sportmoderatorin. Bei Lierhaus waren nach der Operation eines Hirnaneurysmas schwere Komplikationen aufgetreten. Nach vier Monaten im künstlichen Koma musste sie neu laufen und sprechen lernen, die Beeinträchtigung blieb sicht- und hörbar. Lierhaus machte seinerzeit ihrem Mann im Fernsehen einen Heiratsantrag. Die Ehe scheiterte nach vier Jahren. „Die Welt von Frau Lierhaus hatte sich so stark verändert, dass kaum ein Partner damit klarkommen kann“, sagt Klemps. „Mir ist das völlig klar.“
Anders als Lierhaus konnte Eva Klemps nach ihrer Hirnoperation schnell wieder sprechen und laufen. Sie hatte auch keinen Schlaganfall mit schweren Hirnblutungen. Spürbar war die Veränderung vor allem für sie selbst. Um so schwieriger. „Mein Leben“, sagt sie, „war mit 57 zu Ende. Aber kaum einer wusste das.“
Sie schließt einen Vergleich an, den sie im Laufe des zweieinhalbstündigen Gesprächs mehrmals wiederholen wird: „Es ist so, wie wenn Du ein Bein amputiert bekommen hast, aber keine Prothese. Und keiner sieht, dass Dein Bein fehlt. Alle denken: Die läuft doch super. Oder: Was hat die? Soll sich nicht so anstellen.“
Eva Klemps hat Pflegestufe 3, sie gilt als zu 90 Prozent schwerbehindert. Aber sie kann laufen, lesen, erzählen, sie macht viel Sport, Haut und Muskulatur sind straff. Ein Hausarzt, dem sie gesagt habe, sie komme nicht damit klar, dass er nichts über ihre Erkrankung und die Symptome wisse, habe sie rausgeschmissen, postwendend. Ein anderer habe gesagt: „Dann kann ich leider nichts mehr für Sie tun.“
Auf ihrem Wohnzimmertisch liegt eine Biografie von Barack Obama, die anderen Bücher, die sie gerade liest, liegen gestapelt daneben. Sie liest, sie geht ins Kino, sie reist wie früher um die Welt – mit dem Unterschied, dass sie nur noch organisierte Gruppenreisen bucht. „Aber nach einer Woche weiß ich nichts mehr von der Reise, dem Film oder dem Buch. Es sei denn, es bleibt irgendein starkes Gefühl.“ Eine fremde Stadt könne sie nur in Begleitung erkunden, „sonst finde ich nicht den Weg zurück ins Hotel“.
Zehn Jahre dauerte es, bis ihr ein Neurologe nach wenigen Sätzen zu ihrer Operation und den Folgen gesagt habe: „Ganz klar, Frontallappensyndrom.“ Seitdem, sagt sie, sei immerhin die Ungewissheit weg. Sie könne seitdem Menschen erzählen, was sie habe. „Viele verstehen es trotzdem nicht, aber immerhin.“ Sie lese viel zu den Auswirkungen und möglichen Therapien. Die Wissenschaft habe große Fortschritte gemacht. Sie macht Sport und liest, um beweglich zu bleiben, in jeder Hinsicht. Antidepressiva brauche sie, um „genug Antrieb zu haben für den Tag“.
Der Zeitung geschrieben habe sie, „um ein bisschen aufzuklären über ein Krankheitsbild, über das wenig geschrieben und geredet wird, für das es keine Selbsthilfegruppen gibt — und das ein Leben radikal verändern kann“. Sie selbst könne ja kaum beschreiben, was in ihr vorgehe. Aber die Leute sollen zumindest eine Ahnung bekommen, wie es ist. Eva Klemps tut, was sie immer getan hat: Sie nimmt ihr Schicksal in die Hand.
Schmerzhaft sei, dass sie nur noch bedingt Verantwortung übernehmen könne: „Ich wollte immer gern mein Wissen weitergeben, Kindern und Jugendlichen zum Beispiel.“ Sie habe mal Kindern in einer Schule vorgelesen. Aber die Fragen, die sich auf das Gelesene der Vorwoche bezogen, habe sie nicht beantworten können. So etwas passiere ständig. Dass Eva Klemps sich hilflos fühlt, aber nicht hilflos wirkt, wird bleiben. Inzwischen habe sie das akzeptiert. „Mein Leben war mit 57 vorbei“, sagt sie. „Aber ich habe seitdem ein zweites und lebe es so gut, wie es geht.“