Jana Müller-Albrecht arbeitet seit vielen Jahren in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Kölner Uniklinik.
Verzweifelte ElternMitarbeiterin aus Kölner Kinder- und Jugendpsychiatrie über suizidale Kinder
Wenn ein Kind körperlich erkrankt, hat dies Auswirkungen: auf das Kind selbst, womöglich auf den Schulbesuch; außerdem auf die Eltern und deren Berufstätigkeit. Es hat Auswirkungen aufs Familienleben, auf Tagesabläufe und Freizeitplanung. Wenn ein Kind psychisch erkrankt, sind die Folgen dieselben, aber zu den aufgezählten Faktoren kommen weitere hinzu: Selbstvorwürfe, Ausgrenzung, Hilflosigkeit und Scham.
Mit Versagensängsten und Schuldgefühlen von Eltern kennt sich Jana Müller-Albrecht gut aus, denn sie arbeitet seit vielen Jahren in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Kölner Uniklinik und leitet dort unter anderem die Elterngruppe. Sie weiß also, wie es in den Menschen aussieht, deren Kind in einer suizidalen Krise steckt. Sie kennt viele Mütter und Väter, die mit der Situation völlig überfordert sind. Die weinend dasitzen und sich fragen: „Was haben wir falsch gemacht?“
Hier finden Sie Hilfe und mehr Informationen
- Telefonseelsorge, Beratung per Mail, Telefon, Chat oder vor Ort: 0800-1110111 oder 0800-1110222 (kostenlose Nummern) - Nationales Suizid-Präventionsprogramm für Deutschland mit vielen Informationen und Materialien - Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention - Angebote für „Angehörige um Suizid“ - Onlineberatung für suizidgefährdete Jugendliche bieten zum Beispiel die Jugendnotmail oder die Caritas - Information über Suizid und Suizidprävention finden Sie auch bei „Freunde fürs Leben“ - Nummer gegen Kummer (anonym und kostenlos), Informationen für Kinder, Jugendliche (unter 116111) und Eltern (0800/1110550) - Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Köln - Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Holweide - Bundesverband der niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater mit Kontaktadressen - Informationszentrale gegen Vergiftungen, Zentrum für Kinderheilkunde am Universitätsklinikum Bonn, 0228 /19 240
Mit dieser Akut-Hilfe ist niemandem geholfen
Wenn es nicht so zynisch klingen würde, könnte man sagen: Diese Eltern haben Glück, denn ihr Kind ist bereits in guten Händen. Viele andere hingegen haben nicht mal die Perspektive, dass ihrem Sohn oder ihrer Tochter zeitnah geholfen werden kann. „Immer wieder rufen uns verzweifelte Eltern an, die völlig am Limit sind“. Denen könne man nichts anderes sagen, als: „Wir haben keinen Platz!“
In der geschlossenen Abteilung, in der Jana Müller-Albrecht tätig ist, gibt es gerade mal sieben Plätze. „Aber wir sind auch Notaufnahme. Wenn es zu Hause so belastet ist, dass der RTW kommen muss, wird das Kind für ein oder zwei Tage aufgenommen.“ Doch mit dieser Akut-Hilfe sei niemandem geholfen, sagt die 42-Jährige.
„Angehörige sind völlig überfordert“
Müller-Albrecht ist gelernte Kinderkrankenschwester, erzählt sie beim Cappuccino im Uni-nahen Sign-Café. Außerdem ist sie systemischer Coach und Mediatorin. Alle drei Ausbildungen kommen ihr bei ihrer jetzigen Tätigkeit zugute.
„Wenn dein Kind eine Erkältung hat, weißt du, was zu tun ist. Wenn es hingegen in einer Psychose steckt; wenn es sich selbst verletzt; wenn es ankündigt, sich umzubringen zu wollen, sind Angehörige meist völlig überfordert.“ Nicht nur die Eltern, sondern vielfach auch die Lehrer.
Weggucken, statt hinschauen
Erschwerend komme hinzu, dass psychische Erkrankungen in unserer Gesellschaft nach wie vor stigmatisiert würden. „Ich kenne Mütter und Väter, die sich schon lange nicht mehr zum Elternabend in die Schule trauen, denn sie haben ja ein Kind, das …“ Müller-Albrecht ist überzeugt, dass nicht mal in den betroffenen Familien selbst offen über die Erkrankung gesprochen wird.
Und weil gravierende psychische Probleme eher ein Weggucken, als ein Hinschauen provozieren, wird den betroffenen Kindern und Jugendlichen – anders als vielen jungen Menschen mit körperlichen Gesundheitsproblemen – weder die gesellschaftliche noch die finanzielle Aufmerksamkeit zuteil, die sie bräuchten. Das gesamte Team – angefangen vom Oberarzt bis hin zum Sozialdienst – mache einen sehr guten Job, sagt Müller-Albrecht. Alle arbeiteten viel mehr, als sie müssten. Gleichwohl fehle es überall an Plätzen, an Kapazität, an Personal.
Nie eine verlässliche Beziehung erlebt
„Wenn ein Mangel offen zutage tritt – wie im vergangenen Herbst, als die Ergebnisse der jüngsten Pisa-Studie veröffentlicht wurden, hört man seitens der Politik stets die gleichen Sätze“, stelle ich fest. Man müsse in unsere Kinder investieren, denn die seien das Kapital unserer Zukunft. „Aber gefühlt passiert nichts!“ Mein Gegenüber nickt. „Dabei ist es so wichtig, dass sich auch gesellschaftlich etwas ändert“. Dass beispielsweise schon in den Schulen über psychische Probleme gesprochen und aufgeklärt werde. „In jeder Familie gibt es jemanden, der eine Depression hat oder seelisch labil ist“, sagt mein Gegenüber und verweist auf einen Song, („Hier ist was in Bewegung“) in dem der Kölner Musiker David Floyd für mehr Akzeptanz und Toleranz gegenüber psychisch Erkrankten wirbt.
Für viele Kinder und Jugendliche, die vielleicht schon vor Corona „ein ängstlich-vermeidendes Verhalten“ gezeigt hätten, habe die Pandemie desaströse Auswirkungen gehabt. Auffällig sei neben dem Anstieg von Ess-Störungen, depressiven Episoden oder suizidalen Krisen auch eine Zunahme von Bindungsstörungen – verursacht durch Beziehungsabbrüche, Missbrauch, Gewalt. Die 42-Jährige spricht von Kindern, die „nie eine verlässliche Beziehung erlebt“ hätten und Jugendlichen, die „überhaupt keinen Bezug haben und glauben, sie sind daran schuld.“
Was erzählen Menschen, wenn man sie auf der Straße anspricht und zum Kaffee einlädt? Dieser Frage geht Susanne Hengesbach regelmäßig nach.