Am 20. November 1924 ist Thomas Manns Jahrhundertroman „Der Zauberberg“ erschienen. Heute wirkt das Werk unangenehm aktuell.
100 Jahre „Der Zauberberg“Wie Thomas Mann unsere große Gereiztheit vorwegnahm
Sieben Jahre lang kann der angehende Schiffsbau-Ingenieur Hans Castorp die Eigenarten und Paradoxien der europäischen Vorkriegszivilisation aus herausgehobener Position in den Schweizer Alpen betrachten. In der dünnen Graubündner Luft des Internationalen Sanatorium Berghof, 1560 Meter über dem Meeresspiegel, verflüchtigen sich alle Debatten in schöner Konsequenzlosigkeit. Die wahren Kranken leben dort unten, im Flachland.
Erst im vorletzten Kapitel von „Der Zauberberg“ erreicht die schwärende Krise des Kontinents das Hochgebirge, Thomas Mann hat es „Die große Gereiztheit“ übertitelt. Ein Geist, ein Dämon, habe im Hause Berghof umzugehen begonnen, eine Infektion, der sich kein Insasse und keine Insassin des Lungensanatorium entziehen kann. Die Symptome: „Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge.“
Drei Wochen wohnte Thomas Mann im Sanatorium, dann reiste er ab
Genau vor hundert Jahren, am 20. November 1924, ist „Der Zauberberg“ im Verlag S. Fischer erschienen, ein halbes Jahr nach dem Tuberkulosetod Franz Kafkas, dem kein Sanatorium mehr helfen konnte. Er hätte sich wohl weder das Waldhotel Davos noch das Schatzalp-Hotel leisten können, die beiden Heilstätten, die heute um den Titel der Inspirationsquelle für den Berghof wetteifern. 1912 wohnte Thomas Mann drei Wochen lang im Waldhotel, als Gesellschafter, wie er selbst sagt, seiner Frau Katia, die dort ein halbes Jahr auf Kur verbrachte.
Wie seinem jungen Helden Hans Castorp wurde auch dem Autor bei dieser Gelegenheit eine sogenannte Dämpfung an seiner Lunge diagnostiziert. Das Schatzalp-Hotel besuchte er in dieser Zeit zu Recherchezwecken. Denn statt dem ärztlichen Rat einer ebenfalls halbjährigen Kur nachzukommen – „wer weiß, vielleicht läge ich noch immer dort oben“ – beschloss Mann, ins Flachland zurückzukehren und seine Erlebnisse in einer satirischen Novelle zu verarbeiten. Die wuchs sich, unterbrochen vom Ersten Weltkrieg, in zwölf Jahren zu jenem immer noch hochkomischen Großwerk aus, als das „Der Zauberberg“ heute gefeiert wird.
Der Historiker Christopher Clark hat die intellektuelle Atmosphäre vor dem Ausbruch des großen Krieges in seinem Buch „Die Schlafwandler“ als Überlagerung von modernen Einstellungen und einer Lebensweise beschrieben, die immer noch von traditionellen Überzeugungen und Werten geprägt war.
Diese tektonischen Spannungen drohen im vorletzten „Zauberberg“-Kapitel die Patienten des Berghofs zu verschlingen, sie „überlassen sich dem Taumel“, werden „unrettbar in den Strudel gezogen“. Die Zeit, die in der ersten Hälfte des Romans fast stillzustehen scheint, beschleunigt sich, bis nur der Donnerschlag des Augenblicks bleibt.
Es treten auf: ein das Küchenpersonal anschreiender Schüler, ein ehemaliger Kaufmann, der sich ganz dem Antisemitismus verschrieben hat, eine polnische Gesellschaft, die sich in einer Orgie von Ohrfeigen entzweit. Und schließlich eskaliert der Konflikt zwischen dem Humanisten Settembrini und dem Proto-Faschisten Naphta, die über weite Strecken des Romans wie Engelchen und Teufelchen um Hans Castorps Seele ringen. Naphta eifert gegen den „bürgerlichen Sicherheitsstaat“ und den Glauben an die Objektivität der Wissenschaft, sehnt den Krieg und den „heiligen Terror“ herbei, es kommt zum Duell mit tödlichem Ausgang und der nicht mehr so junge Ingenieur begreift, „daß am Ende aller Dinge nur das Körperliche blieb, die Nägel, die Zähne“.
Ein Jahrhundert später wirkt die große Gereiztheit am Ende des Jahrhundertromans unangenehm vertraut, und ebenso das Gefühl des beschleunigten Taumels, der keine Rückkehr ins demokratische Gleichgewicht mehr erlaubt. Das Flachlandfieber ist zurück.