Antú Romero Nunes inszeniert Olga Tokarczuks „Zauberberg“-Parodie „Empusion“ im Schauspiel Köln.
Premiere im Schauspiel KölnNiemand kann Männer so gut darstellen wie diese Frauen
Mieczysław Wojnicz will sich nicht ausziehen. Egal, ob es Dr. Semperweiss, der Kurarzt von Görbersdorf, mit flehen, befehlen oder Appellen an den gesunden Menschenverstand versucht. „Wojnik“ bedeutet im polnischen „Krieger“, aber der schmächtige Lungenleidende druckst sich herum, als wolle er am liebsten in seinem Anzug verschwinden und nur eine kleine Tränenpfütze zurücklassen. Semperweiss schickt den Leidenden in das von seinem Bekannten Wilhelm Opitz betriebene Gästehaus für tuberkulosekranke Männer. Die einzige Frau im Haus, Optiz‘ Gattin Klara, hat sich just erhängt.
Es war auch schwer auszuhalten. Ihr viel älterer Mann hat sie wie eine Dienstmagd herumgescheucht und im Keller schlafen lassen – und seine Patienten vertreiben sich die Zeit mit misogynen Geschlechtertheorien. Das Frauen so dächten wie Männer, doziert etwa der Wiener Altphilologe August August, sei eine Illusion: „Sie imitieren, sie imitieren unsere Art des Gesprächs, und manche von ihnen, das muss man zugestehen, haben es recht weit darin gebracht.“
Frauenfeindlichkeit als Pickel des männlichen Literaturkanons
Das im niederschlesischen Luftkurort entwickelte Heilprogramm hatte Thomas Mann in seinem Roman „Der Zauberberg“ ins schweizerische Davos verlegt. Seine Literaturnobelpreis-Kollegin Olga Tokarczuk führt die Behandlungsmethode in ihrem fast 100 Jahre später erschienen Roman „Empusion“ an den Ursprungsort zurück. Es ist nicht ihre einzige Korrektur. In „Empusion“ zerrt Tokarczuk die Vorlage des Frauenfeindes Mann aus ihren luftigen Höhen in die Niederungen des patriarchalen Wahns, aus philosophischen Belehrungen werden psychologische Symptome, aus dem Bildungsroman eine schaurige Groteske.
Im Wald um den Kurort hausen die Empusen, weibliche Rachegöttinnen, die einmal im Jahr mit einem Männer-Opfer befriedet werden müssen. Vielleicht sind es die Geister einst als Hexen verfolgter Frauen, vielleicht zum Leben erweckte „Tuntschis“, aus Stroh oder Holz gefertigte Sexpuppen, mit deren Hilfe einsame Köhler oder Hirten ihre Triebabfuhr erledigten. So erzählt man es sich jedenfalls furchtsam im Optiz'schen Haus, beflügelt von einem aus einem psychoaktiven Pilz gegärtem Schnaps. Die Tuberkulösen sind die Ausgemusterten der Gesellschaft, umso verzweifelter performen sie ihre Männlichkeit, selbst der schwächliche Mieczysław schwärmt immer wieder vom Militär und dem Zauber der Uniform.
Die Männlichkeitsdarstellung darf man im Depot 2 des Schauspiels Köln wörtlich nehmen. Regisseur Antú Romero Nunes hat sämtliche Rollen der von Lucien Haug besorgten Dramatisierung weiblich besetzt, einem veritablen All-Star-Ensemble. Der Abend ist eine Koproduktion zwischen dem Lausitz Festival – wo er Premiere feierte – dem Theater Basel – wo Nunes Co-Spielleiter ist – und dem Schauspiel Köln, weshalb im Depot Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer und Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker mit im Publikum saßen.
Der Geschlechtertausch liegt nahe, denn Tokarczuk lässt ihr Romanpersonal in Zitaten „großer“ Dichter und Denker sprechen, von Hesiod bis Freud, von Plato bis Nietzsche, sie hat die Liste der Entlehnungen ihrem Buch beigelegt. Die Frauenfeindlichkeit, sagt die Autorin in einem im Programmheft abgedruckten Interview, trete wie ein Mitesser hervor, sobald man die Oberfläche der meisten kanonischen Prosa nur ein wenig drücke.
Sabine Waibels reine Spielfreude
So wirken die Postulate der Herren noch ein wenig abstruser. Der zweistündige Abend ist ein Fest der Schauspielerinnenkunst, ohne grobschlächtige „Charleys Tante“-Klopfer, auch ohne den flirrenden Geschlechterwechsel einer Shakespeare-Komödie, aber selten war fragile Männlichkeit so komisch. Anne Haug verwandelt sich mit einer Drehung der Perücke vom ultrarationalen Arzt zum abergläubischen Herbergsvater, als wären sie nur zwei Seiten einer Medaille – Nunes wählt generell die jeweils einfachsten Theatermittel und diese inszenatorische Bescheidenheit tut dem Abend gut. Charlotte Müller gibt den stoffelig-ultrakatholischen Gymnasiallehrer Longinus Lukas mit breitem Backenbart und noch breiteren Manspreading, Gro Swantje Kohlhof hustet sich als Landschaftsmaler Thilo von Hahn blutige Verschwörungsmythen aus der Kehle, verleiht ihrer sterbenden Figur aber auch eine Tragik, die weit über die Karikatur hinausgeht.
Umso dicker trägt Sabine Waibel als August August auf – der, um im „Zauberberg“ zu bleiben, humanistische Settembrini zu Müllers dogmatischem Naphta. Dabei geht Waibel sprachlich und gestisch bis zur Unkenntlichkeit in ihrer kuriosen Figur auf, es ist die reine Spielfreude, die sich zur Gänze in den Zuschauerraum überträgt, doch ein wenig tut einem dieser nur klammheimlich homosexuelle August August auch leid.
Aenne Schwarz ankert als zittriger Mieczysław Wojnicz das wilde Geschehen, sie changiert zwischen den Geschlechtern, zuerst völlig gehemmt, später dann – wir wollen nicht zu viel verraten – umso befreiter, es ist eine wunderbare, noch lange nachklingende Darstellung. Je weiter der Abend voranschreitet, desto mehr bemüht sich Antú Romero Nunes auch dem Unheimlichen der Romanvorlage gerecht zu werden, das freilich gelingt nicht durchgehend, da muss die Musik (Anna Bauer) mit Donnerrütteln nachhelfen.
Dem Vergnügen tut das keinen Abbruch, der Besuch in Görbersdorf ist rundum zu empfehlen.