Robert Franks „The Americans“ revolutionierte die Fotografie. Jetzt ist die legendäre Bilderstrecke in der Kölner Galerie Zander zu sehen.
100 Jahre Robert FrankDas Buch des Propheten kommt nach Köln
Am 7. November 1955 griff die Polizei der amerikanischen Ortschaft McGehee einen schäbig gekleideten Ausländer auf, dessen alter Ford vollgestopft mit Kisten, Koffern und Kameras war. Offenbar klapperte der Mann die Fabriken in der Umgebung ab, schlief, nach seinem Aussehen zu urteilen, in seinem Wagen, und trug das Empfehlungsschreiben eines Russen namens Alexej Brodowitsch bei sich. Die Polizisten sahen in diesem seltsamen Fremden einen sowjetischen Spion, verhörten ihn vier Stunden lang und drohten, seine Aufnahmen zu konfiszieren. Erst spät in der Nacht ließen sie ihn gehen – nachdem er versprochen hatte, nie wieder zurückzukommen.
Die Polizisten ahnten nicht, dass ihnen an jenem Tag ein Stipendiat der renommierten Guggenheim-Stiftung ins Netz gegangen war; sie wussten nicht, dass Alexej Brodowitsch als künstlerischer Leiter der New Yorker Modezeitschrift „Harper’s Bazaar“ nur ästhetische Umstürze im Sinne hatte; und selbstredend sahen sie im 30-jährigen Robert Frank nicht den legendären Fotografen, der er heute ist – und der er auch dank ihres Zutuns wurde.
In der Kölner Galerie Zander hängen Robert Frank „Americans“ als Vintages an den Wänden
In den Jahren 1955 und 1956 fuhr Robert Frank über 10.000 Meilen durch die USA, um Motive für ein Fotobuch über den amerikanischen Alltag zu sammeln. Er machte 27.000 Aufnahmen in dutzenden Städten und Ortschaften, sah Armut und Rassentrennung, freudlose Paraden und feierliche Filmpremieren. Aber nichts zeigte ihm deutlicher, dass er in diesem Land ein Fremder war, als die Demütigung von McGehee. Und dieses Gefühl akzeptierte er nicht nur, er umarmte es und sah nun überall Menschen, die sich selbst fremd zu sein schienen.
Als Frank seinem Freund, dem Schweizer Fotografen Gotthard Schuh, den ersten Entwurf seines Reiseberichts schickte, erschrak dieser beim Anblick von „The Americans“: „Kein Lächeln, keine Blume, keine Schönheit. Gequälte und sture Menschengesichter, eingeklemmt in Maschinenteile, ausdruckslos wartend vor Tanksäulen, gelangweilt in den Karosserien ihrer Luxuswagen.“ Vor allem erschrak Schuh aber davor, dass er in diesem Amerika die Zukunft sah.
Selbst heute spürt man noch die revolutionäre Wucht, mit der Franks zunächst in Paris verlegtes Buch 1958 die fotografische Gemeinde traf; erst recht, wenn die 83 Aufnahmen, wie ab diesen Samstag in der Kölner Galerie Zander, als fantastische Originalabzüge an den Wänden hängen. Es die seltene und wohl einzige Gelegenheit, eine derartige Gesamtschau der „Americans“ ohne Überseereise zu sehen – Thomas Zander zeigt einen von drei Bildersätzen, die Frank 1983 als definitive Version seiner Arbeit anfertigen ließ; die beiden anderen gehören US-Museen. Möglich wird die Ausstellung durch Kooperationen, aber vor allem durch ein Jubiläum: Am 9. November 1924 wurde Frank in Zürich geboren.
Als Zugaben zeigt Zander in Köln zwei spezielle Bonbons für Frank-Enthusiasten: das neue Schlussbild der „Americans“, das Robert Frank seinem persönlichen Vermächtnis, aber nicht dem Buch hinzufügte, sowie eine Auswahl gerahmter Kontaktabzüge. Mehrere Filme und anderes dokumentarisches Material komplettieren die Ausstellung, die bis ins nächste Jahr zu sehen sein wird. Wer sie verpasst, macht sich mit Ausreden also nur lächerlich.
Am meisten, schrieb der New Yorker Fotokurator John Szarkowski, ärgerten sich 1958 diejenigen über „The Americans“, die vom Inhalt des Buches am wenigsten überrascht gewesen sein dürften. „Diese gewöhnlichen Bars am Straßenrand, Einkaufsstraßen, politischen Paraden, Imbisse und staubigen Gassen mit ihren anonymen Einwohnern waren alle schon fotografiert worden, immer und immer wieder. Aber jetzt wirkten sie schäbiger und plötzlich hoffnungslos.“
Diese neue Qualität entstand nicht allein dadurch, dass Frank bestimmte Regeln der Fotografie verletzte, Menschen unscharf zeigte oder Dinge anschnitt, denn, so Szarkowski, diese Regeln waren seit Jahrzehnten unter Beschuss. „Der quälende Charakter von Franks Bildern lag in ihrer Uneindeutigkeit, in ihrem Widerwillen, sich zu einem Inhalt und einer Moral zu bekennen.“ Robert Frank trat auf, wie ein „Prophet, der Rätselsprüche zitiert“. Seine Bilder wirkten unfertig und die mehr spürbaren als festgehaltenen Konflikte ungelöst.
Als Robert Frank 1947 in die USA zog, schien eine derart radikale Fotografie noch weit entfernt
Als Robert Frank 1947 in die USA zog, schien eine derart radikale, weil betont subjektive Form der Dokumentarfotografie noch weit entfernt. In Europa hatte Henri Cartier-Bresson die Idee des „entscheidenden Moments“ populär gemacht: Um das Bleibende der flüchtigen Wirklichkeit festzuhalten, muss der fotografierte Zufall nur wie von selbst mit den Mustern des klassischen Bildaufbaus zusammenfallen. Und in den USA dominierte die „Life“-Reportage mit ihren nacherzählenden, romanhaften Bilderstrecken den Markt für dokumentarische Fotografie.
Robert Frank brach radikal mit diesen Vorbildern und verwandte ein halbes Jahr auf die Komposition seines „Gedichts“ in Bildern. Bereits die erste Fotografie des Buches enthält sein Programm: Es zeigt eine angeschnittene Hausfront mit zwei Fenstern und einem wehenden Sternenbanner. In den Fenstern stehen zwei Frauen, wobei das Gesicht der Frau im rechten Fenster von der Fahne verdeckt und das Gesicht der anderen Frau von einem Sichtschutz verdüstert wird. So schlicht wie das Bild ist auch dessen Titel „Parade – Hoboken, New Jersey“. Frank zeigt bewusst nicht den Umzug, sondern dessen freudlosen Widerhall. Aus Bürgern wird eine gesichtslose Masse, in der jeder einsam ist.
„The Americans“ brachte etliche Ikonen der Fotografiegeschichte hervor, einzelnen Aufnahmen wie das milchweiße Neugeborene im Arm eines schwarzen Kindermädchens, der küssende Stadtvater oder der an einen Mülleimer gelehnte Stadtcowboy. Aber das Buch folgt eher dem Rhythmus des inszenierten Kontrasts. Frank ordnete die Aufnahmen nach statischen und bewegten Motiven, nach Menschen, die angeblickt werden und solchen, die andere anblicken. Und er bildete Bilderpärchen, die beim Umblättern zueinander finden. Auf ein verhülltes Auto folgt ein verhüllter Leichnam, auf einen demokratischen Parteitag der Schuhputzer auf der Herrentoilette, auf die „schwarze“ Beerdigung das „weiße“ Rodeo und auf den Zeitungskiosk ein Mann mit Erweckungs-Broschüre. Immer wieder lässt Frank die Gegensätze zwischen Weiß und Schwarz, Arm und Reich, Anspruch und Wirklichkeit des amerikanischen Glücksversprechens auf diese Weise aufeinanderstoßen.
Was Robert Frank mit den „Americans“ schuf, ist mehr als ein stilbildendes Fotobuch. Er machte den subjektiven Blick zur neuen Weltsprache der Dokumentarfotografie – durch ihn wurden Diane Arbus, Garry Winogrand oder Nan Goldin überhaupt erst möglich. Frank wollte nicht das wahre Amerika zeigen, weil er wusste, dass es nicht existiert. Stattdessen zeigte er ein Amerika, wie er es sah.
„Robert Frank: The Americans - A Closer Look”, Zander Galerie, Schönhauser Str. 8, Köln, Di.- Fr. 11-18 Uhr, Sa. 11-17 Uhr, bis 17. Januar 2025. Eröffnung: Samstag, 28. September, 15-18 Uhr