25 Jahre NetflixVom DVD-Verleih zum Kulturphänomen – und bald in den Abgrund?
Hannover – Die eisblauen Augen blitzen. „Scheitern ist keine Option“, sagt Ed Harris. Harris spielt Nasa-Flugdirektor Gene Kranz im Hollywooddrama „Apollo 13“ über die gescheiterte Mondmission von 1970. Es war dieser Film, der Reed Hastings vor 25 Jahren zu einer Milliardenidee inspirierte: der Gründung von Netflix. Heute klingt Kranz’ berühmtes Credo von damals wie das Motto von Hastings’ eigener Karriere als TV-Revolutionär, Hollywoodschreck und bisher erfolgreichster Geschichtenerzähler des 21. Jahrhunderts.
Scheitern war nie eine Option für Hastings, geboren 1960 in Boston. Er war Marineinfanterist in der US-Armee, Freiwilliger im Friedenskorps, Mathelehrer in Swasiland, trampte mit 10 Dollar in der Tasche durch Afrika und studierte Künstliche Intelligenz an der Universität Stanford. 1991 gründete er Pure Atria Software, eine Firma für Softwareoptimierung. Die verkaufte er 1995 für 750 Millionen Dollar.
Mit Flatrate zur Weltmacht
Die Idee seines Lebens blitzte dann zwei Jahre später auf, so will es die Firmenlegende, als Hastings in einer Blockbuster-Filiale für eine zu spät abgegebene „Apollo 13“-DVD stolze 40 Dollar Strafe bezahlen sollte.
40 Dollar? Eine Flatrate für Videos, dachte Hastings. Wie im Fitnessstudio. Das wär’s. So viele Filme im Monat, wie man möchte – zum Festpreis. Es wurde die Geburtsstunde eines Weltkonzerns.
Ein paar Jahre lang tütete man bei Netflix in Kalifornien erstmal fleißig DVDs ein. Aus dem Postversand wurde 2007 ein Streamingdienst – und dann eine Weltmacht. 2012 fiel die Entscheidung, das ganz große Wagnis einzugehen – mit eigenen Serien, glamourös in Anspruch und Machart, und vor allem: stilprägend. Netflix gewöhnte Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer an serielles Komaglotzen und machte Streaming zum globalen popkulturellen Taktgeber. Heutiger Börsenwert: knapp 100 Milliarden Dollar.
Das Medium verschaffte auch Deutschland die radikalste Veränderung seit dem Startschuss für das Privatfernsehen vor 35 Jahren. Heute greifen die globalen Tech-Konzerne nach den Sternen.
Lange hatte das glamouröse Kino das Fernsehen als verlotterte Stiefschwester verlacht, hatten sich die ganz großen Stars dem kleinen Schirm verweigert. Hastings’ Vision von der „globalen Jukebox“ (und seine Millionen) überzeugte auch die Superstars, erst recht seit dem Meilenstein „House of Cards“ mit Kevin Spacey in der Rolle des Machtpolitikers Francis „Frank“ Underwood. Die Figur wurde zum Quasi-Maskottchen von Netflix, auch weil sie exakt zur Marke passte: ruchlos, verführerisch, mächtig, cool und risikofreudig. Die Welt staunte: Wie bitte? Neun Emmys für eine Serie, die „nur im Internet“ läuft? Was ist passiert?
Fernsehen, befand Hastings immer, müsse „so einfach sein wie Strom“. Und in der Tat ist Netflix heute in vielerlei Hinsicht das Maß aller Dinge, weit über das Entertainment hinaus. Die Instant-Befriedigung sämtlicher Kundenbedürfnisse ist zum Industriestandard geworden. Video und Musik per Klick. Echtzeitnachrichten. Expressversand. Download sofort. Alle Folgen am Stück (wobei auch Netflix immer öfter davon abweicht).
Netflix: über ein Jahrzehnt das popkulturelle Schlemmerbüfett der Stunde
Die frühen Jahre waren ein einziger Triumph. Der Netflix-Gründer ließ nie Zweifel daran, in wessen Tradition er sich und seine Firma sieht: „Homer, die großen Dichter der Antike, Shakespeare“, schwärmt er gern, „sie alle waren Geschichtenerzähler!“ Netflix blieb über ein Jahrzehnt das popkulturelle Schlemmerbüfett der Stunde, führte das „Golden Age of Television“ zu voller Blüte und machte die süchtig reingezogene TV-Hochglanzserie zur einflussreichsten Erzählform der Gegenwart. Hastings genoss dabei stets milde lächelnd seine Rolle als Stachel im Pelz der Funindustrie. „Wir machen nicht alles anders“, sagt er, „wir machen es nur richtig.“
Dabei ist es natürlich Wahnsinn, dem Süchtigen selbst die Kontrolle über die Dosis seiner Droge zu überlassen. Jeder Streetworker weiß das.
Aus der Maschine tropft Öl
Doch aus der Spaßmaschine tropft Öl. Es läuft nicht mehr rund. Die Goldgräberstimmung ist verflogen. Im Jahr 2020 galt Netflix neben Amazon noch als großer Gewinner der Corona-Krise: Die halbe Welt lag auf dem Sofa und dürstete nach Ablenkung. 15,8 Millionen Neukunden und -kundinnen verzeichnete der Streamingdienst im ersten Quartal 2020 – Rekord. Serien wie „The Crown“, „Das Damengambit“ oder „Umbrella Academy“ galten als potenter Impfstoff gegen die Lockdownlangeweile, sie waren das Laudanum für die coronageplagte Seele.
Seit einem halben Jahr aber verliert der Pionier von einst Abonnenten. Im zweiten Quartal 2022 sank die Nutzerzahl um fast eine Million auf 220,67 Millionen. Der Wert der Aktie ist seit Januar um knapp 60 Prozent gefallen. Backstage streitet man über Strategien: mehr massenweise Mittelmaß – oder wieder weniger, dafür glanzvollere Ware?
Ein Schwertransporter im Datenverkehr
Videostreaming hat einen großen Nachteil: Es verbraucht wahnsinnig viele Daten. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Netflix einen großen Anteil am weltweiten Datenverkehr hat. Bei den sogenannten Downstreams sind es 15 Prozent, wie der Global Internet Phenomena Report des kanadischen Netzwerkausrüsters Sandvine herausfand. 13,4 Prozent entfallen demnach auf HTTP-Medienstreams, danach folgt Youtube mit einem Anteil von 11,4 Prozent. Webbrowsing und MPEG-Streams haben derweil Anteile von 7,8 und 4,8 Prozent am globalen Downloadtraffic.
In Nord- und Südamerika ist der Anteil von Netflix mit 19,1 Prozent sogar noch höher. In Spitzenzeiten nehme der Streamingdienst bis zu 40 Prozent der Bandbreite in Anspruch, heißt es in dem Report. Dabei nutzt Netflix für die Verbreitung seiner Videos schon ausgeklügelte Kompressionsverfahren. Würde der Anbieter seine Filme und Serien unkomprimiert streamen, wäre der Datenverkehr sogar noch um ein Vielfaches höher.
Der David von einst ist zum Goliath geworden. Das ist eine alte Regel der Markwirtschaft: Ein funktionierendes Geschäftsmodell lockt die Nachahmer an wie Erdbeerkuchen die Wespen.
Und die Konkurrenz ist stinkreich, zäh und erfahren. Alle großen Player der Entertainmentwelt verfolgen inzwischen dasselbe Ziel: anfixen, süchtig machen, abkassieren. Amazon Prime, Hulu, Apple+, Paramount+, Crunchyroll, Tubi, Hulu, Pluto TV, Boomerang, Vudu, Sling, HBO Max oder Peacock aus dem Hause NBC – sie alle investieren Milliarden in ihr Streamingportfolio. Eine einzige Folge der Apple-Serie „The Morning Show“ mit Jennifer Aniston und Reese Witherspoon soll bis zu 15 Millionen Dollar gekostet haben – so viel wie zwölf ARD-„Tatorte“. Netflix gibt jährlich rund 8 Milliarden Dollar für Inhalte aus, Amazon Prime Video 4 Milliarden, Hulu etwa 3 und HBO 2 Milliarden Dollar. Dagegen sind die Fiction-Etats von ARD, ZDF oder RTL nur „ein Nasenwasser“ (ARD-Programmdirektorin Christine Strobl).
Vor allem Disney+ ist Netflix auf den Fersen. Der erst 2019 gestartete Rivale liegt schon bei gut 152 Millionen Kundinnen und Kunden. „Die Wettbewerber bedrängen uns, das wird spannend“, sagte Hastings dem RND. „Am Ende ist sicher kein Platz für 20 Anbieter. Aber es werden mehrere sein. Wir müssen uns eben unverzichtbar machen.“ Bloß wie?
Erhöhung zum Geburtstag
Pünktlich zum Geburtstag hat man erst mal die Preise erhöht. Der Premiumzugang kostet jetzt 17,99 Euro (zwei mehr als bisher). Netflix will zudem stärker gegen Kunden vorgehen, die ihre Login-Daten teilen. Und auch ein altes Hastings-Motto bröckelt: die Werbefreiheit. Gerade hat Amazon sein werbefinanziertes, kostenloses Streamingangebot Freevee gestartet. Netflix will nachziehen.
Die erste heiße Liebe zwischen dem TV-Schlemmerbüfett Netflix und den hungrigen Gourmets der Welt scheint erkaltet. Ein Gewöhnungseffekt setzt ein. Noch eine Superheldenserie? Noch mehr Sci-Fi? Im Jahr 2010 kamen 210 neue Serien auf den Markt. 2021 waren es schon 559. Das ist ein Anstieg um 166 Prozent. Die Frage ist: Wer soll das alles gucken? Man kann eben nicht alle vier Wochen komplette Begeisterung auslösen – das war aber über Jahre das Versprechen von Netflix. Netflix-Serien gleichen einander allmählich wie ZDF-Vorabendserien. Hier jagen halb kaputte Antihelden das Glück oder schielende Schurken – dort stehen Zahnarztgattinnen an Bergseen herum.
Das Fernsehen, man vergisst das ja schnell, war vor einem Vierteljahrhundert eine ziemlich verstockte Angelegenheit. Zwar füllten HBO, Sky und andere die intellektuellen Lücken, die das Traditions-TV ließ. Doch horizontal erzähltes, opulentes Goldkantenfernsehen war kein Massengeschäft. Schon gar nicht in Deutschland, wo Premiere alias Sky jahrelang gegen Gewohnheiten ankämpfte. Hierzulande galt: Spielfilme beginnen um Zwanziguhrfuffzehn. Was läuft, bestimmt der Herr Programmdirektor. Und am Ende ist es meistens ein Krimi. Die Deutschen waren einfach nicht bereit, mit einem HDMI-Kabel in der linken und Seite 634 der Bedienungsanleitung in der rechten Hand hinter ihre Fernseher zu klettern, um sich an die televisionäre Neuzeit anzukoppeln. Fernsehen war kompliziert. Erst Netflix war einfach.
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Zunächst belächelte die hiesige Branche den großkotzigen Neuling, der im Sommer 2014 auf den Plan trat. „Morgen früh wachen nicht 80 Millionen Deutsche auf und rufen: Hurra, wir wollen jetzt Geld für Fernsehen ausgeben!“, sagte Brian Sullivan, damals deutscher Sky-Chef, dem „Spiegel“. Doch hinter den Kulissen ging die nackte Angst um. Man ahnte: Hier bleibt kein Stein auf dem anderen. Das ist nicht allein das Verdienst von Netflix. Die Zeit war einfach reif. Doch der Erfolg von Netflix zwang auch die deutschen Sender zu Qualität. Irgendwann erkannten selbst ARD und ZDF das Potenzial von Miniserien statt des nächsten holprig gespielten 90-Minüters über eine versnobte Städterin, die den Familienbauernhof rettet.
Die Welt – wie Netflix sie sieht
Entertainment ist viel mehr als leichte Unterhaltung. Die knackscharfe Bilderflut formt unser Bild der Welt. Das ist keine neue Erkenntnis, aber die schiere Masse der schillernden Formatware, die heute in Wohnzimmer drängt, hat die Macht, regionale Kulturen zu verdrängen und die eigene geistige Freiheit stärker zu umzäunen als je zuvor. „Wir erleben die Amerikanisierung unserer Sendekultur, weil diese wahnsinnig reichen Unternehmen die Macht an sich reißen“, warnte der britische Regisseur Peter Kosminsky in der „Zeit“.
Ist die aktuelle Netflix-Krise nur ein Zwischentief? Oder der Anfang vom Ende? Es kann ja schnell gehen, selbst bei Giganten: Als Hastings damals an der Blockbuster-Theke 40 Dollar zahlen sollte, kam niemand in der Filmwelt an dem Videothekriesen und seinen 9000 Filialen vorbei. Im Jahr 2000 hätte Blockbuster die Chance gehabt, für 50 Millionen US-Dollar Hastings’ kleinen DVD-Verleih zu übernehmen. Man lehnte ab. Und starb. Kein Mensch brauchte mehr Videotheken. Das ist aktuell die größte Angst in Reed Hastings’ Haus des Geldes: das nächste Blockbuster zu werden.