„Rhythm Is a Dancer“, „Mr. Vain“, „What Is Love“ – für diese 90er-Hits schämt man sich in Deutschland noch immer ein wenig. Völlig zu Unrecht!
Blick auf die Musik-GeschichteAls in Hennef Welthits produziert wurden – 30 Jahre Eurodance
„Ich weiß, was ich will, und ich will es jetzt“: Vor 30 Jahren kletterte der Song „Mr. Vain“ des Frankfurter Produzenten-Projekts Culture Beat an die Spitze der deutschen Charts, wo er sich neun Wochen lang hielt. Zum Sommeranbruch stand die Disconummer mit dem federnden Bass und den fiebrigen Keyboard-Riffs dann in ganz Europa auf Nummer Eins, von Norwegen bis Italien.
Der ganze Kontinent – und auch das Vereinigte Königreich – tanzte zum selben 4-to-the-floor-Beat, die regelmäßig pumpende Bassdrum klang wie der Herzschlag eines neuen, grenzenlosen Europas. Die Mär vom eitlen Stenz, dem alle Frauenherzen zufliegen, war der Soundtrack zum Ende der Geschichte. Friede, Freude, Freiheit in 133 Beats per Minute.
„Mr. Vain“ markierte den ersten Höhepunkt des Eurodance, einer Musikwelle, die erst auf diesen Namen getauft wurde, als sie längst wieder abgeebbt war. Zu seinen Hochzeiten beherrschte Eurodance Hitparaden, Großraumdiscos und Radioprogramme – und galt vielen Hörern dennoch als Fremdscham-induzierend. Als dümmliche Funktionsmusik bar jeden Inhalts, die man bestenfalls als Motivations-Geboller zum Bauch-Oberschenkel-Po-Training tolerierte, oder zur angetrunkenen Autoscooter-Fahrt.
Tatsächlich überschnitten sich die Szenen, was den Abgrenzungswahn freilich noch besser erklärt. Und auch die Übergänge zwischen den ersten House- und Techno-Stücken, denen der Sprung von den Szene-Clubs ins allgemeine Bewusstsein gelang, und den Anfängen des Eurodance waren fließend. „Pump Up the Jam“ (1989) vom belgischen Projekt Technotronic fusionierte House und Hip-Hop-Elemente (in Deutschland war die Coverversion „Pump ab das Bier“ erfolgreicher).
„The Power“, die Debütsingle von Snap! aus dem Frühjahr 1990, lässt sich leicht als Fortschreibung von „Pump Up the Jam“ identifizieren, doch der zwei Jahre später erschienene Snap!-Hit „Rhythm Is a Dancer“ gilt ebenso eindeutig als erste Eurodance-Hymne.
Kirmestechno lautete denn auch eine abwertende Bezeichnung für das Genre. Sie wurde insbesondere von Anhängern der „reinen Lehre“ des Techno gebraucht. Die konnten es einfach nicht fassen, in welch fratzenhafter Gestalt die Musik, mit der man den quasi-faschistischen Frontalunterricht des Rocks durch die Herrschaft der feiernden Menge ersetzen wollte, nun Einzug in den Mainstream hielt. Man hatte Derrick May gesät und DJ Bobo geerntet.
Wie kurz darauf Culture Beat begann auch Snap! als Elektronik-Projekt aus dem Umfeld der Frankfurter Flughafen-Disco „Dorian Gray“, dem Ground Zero der deutschen Technoszene. Genau wie Techno war Eurodance eine Produzentenmusik, die oft im Umfeld großer Clubs entstand, abseits der großen Zentren und nicht nur in Deutschland, sondern auch in Dänemark (Vengaboys, Aqua), Italien (Eiffel 65) oder Schweden (Dr. Alban, Rednex).
Die Zauberformel des Eurodance hieß „Fra-si-Ma-ra“
Hier wie dort wählten die Macher die Anonymität, deutsche Techno-Größen versteckten sich hinter Dutzenden von Pseudonymen, Eurodance-Produzenten gaben sich möglichst international klingende Fantasienamen: so firmierten Michael Münzing und Luca Anzilotti von Snap! als Benito Benites und John Virgo Garrett III.
Doch während im Untergrund der elektronischen Tanzmusik das Label auf der 12-inch-Platte zum eigentlichen Aushängeschild wurde, gaben die Eurodance-Produzenten ihren Studioprodukten öffentlichkeitswirksame Stimmen und Gesichter. Nach der Formel „Fra-si-Ma-ra“ (Frau singt, Mann rappt) engagierten sie dabei häufig People of Color.
Stimmgewaltige britische Background-Sängerinnen trafen auf schwarze GIs, die sich nicht selten in einem deutschen Tonstudio zum ersten Mal überhaupt als Rapper versuchen durften. Weshalb so viele Rap-Parts in Eurodance-Songs eher eine Ansammlung gebellter Gaga-Slogans sind – sicherlich ein Grund dafür, dass sich das Genre nie in den USA durchsetzen konnte.
Die Popmusik des frisch entgrenzten Europas präsentierte sich global und multikulturell, keinem bestimmten Ort mehr zugehörig und überall gleich leicht verständlich.
Ein schönes Beispiel ist der – ausnahmsweise Rap-freie – Eurodance-Hit „What Is Love“ (1993): Hinter dem Produzententeam Dee Dee Halligan und Junior Torello verbirgt sich das Kölner Komponisten-Duo Dieter Lünstedt und Karin Hartmann-Eisenblätter, verantwortlich unter anderem für die größten Hits von Wolfgang Petry. Der in Trinidad und Tobago geborene Sänger Haddaway hatte in Washington, D.C. ein Politikstudium abgeschlossen, spielte in Köln Football bei den Cologne Crocodiles, bevor er in einem Studio im Hennefer Industriegebiet seine Debüt-Single einsang und für eine kurze Zeit zum Weltstar wurde.
Das galt für so gut wie alle Eurodance-Acts: Selten reichte es zu mehr als einem oder zwei Hits. Dr. Alban, der singende Zahnarzt aus Stockholm, war als Künstler quasi identisch mit seinem Hit „It’s My Life“, vom Duo La Bouche bleibt nur die deutsche Nummer-Eins „Be My Lover“ zurück, und auch das Captain Hollywood Project konnte nur zweimal punkten, mit „More Is More“ und „Only With You“. Die dazugehörigen Alben wollte eh niemand hören. Nur der Schweizer DJ Bobo füllt bis heute zuverlässig die Arenen.
Dabei kann man dem Einfluss des Eurodance bis heute leicht nachspüren. Von den schwedischen Hitfabrikanten, die sich nach Dr. Alban unter anderem Britney Spears zuwandten, über Lady Gaga und das Londoner Label PC Music, das 15 Jahre später die glatte Oberfläche dieser ersten komplett digital erzeugten Popmusik als letztmögliche Geste der Subversion verstand. Dessen Hyperpop beeinflusst wiederum maßgeblich die Chartmusik von heute.
Mit anderen Worten: Man muss sich für den Eurodance nicht schämen. Im Gegenteil, man darf sich guten Gewissens auf dessen Visionen einer friedlichen Feiergemeinschaft besinnen, die Arme in die Höhe werfen und Hallelujah singen.