30 Jahre „Wind of Change“„Unsere Väter kamen mit Panzern, wir mit Gitarren“
- Kurz vor dem Fall der Mauer traten die Scorpions in Moskau auf. Die Eindrücke vor Ort inspirierten ihren Sänger Klaus Meine zum Song „Wind of Change“.
- Eine kitschige Powerballade. Aber kein anderes Lied fängt das Ende des Kalten Krieges so perfekt ein.
- Zu seinem 30. Jahrestag ist jetzt ein Luxus-Box-Set erschienen – und ein Podcast, der der Frage nachgeht, ob nicht doch die CIA den Song geschrieben hat.
Hannover – „In Leningrad“, erzählt Klaus Meine, haben wir uns zum ersten Mal als deutsche Band gefühlt.“ Zuvor hätten die Scorpions alles dafür gegeben, als internationale Rockband ernst genommen zu werden. Was den Nietenlederjacken-Trägern aus Hannover erstaunlich gut gelang, trotz Akzent und Grundschulenglischtexten. Doch live waren die Scorps tight, da konnte ihnen niemand das Wasser reichen.
Im April des Jahres 1988, auf den Wogen der Newa, an Bord des Panzerkreuzers Aurora, dessen Kanonen im Oktober 1917 das Signal zum Sturm auf den Winterpalast gegeben hatten, fühlen die ehrgeizigen Hardrocker aber vor allem Demut. „Unsere Väter kamen mit Panzern, wir kamen mit Gitarren“, sinniert Klaus Meine im Booklet zum Box-Set „Wind of Change“, das zum 30. Jahrestag der deutschen Einheit erschienen ist, limitiert auf 2020 Exemplare, mit Berliner-Mauerstein.
Wo die Scorpions auch hinkommen, werden sie von russischen Teenagern erkannt, die ihnen Kassettenrekorder entgegenhalten, auf denen sie der Band deren eigene Hits vorspielen. Songs wie „Rock You Like a Hurricane“ und „Still Loving You“ haben sich als Tonband-Samisdat in allen Winkeln der UDSSR verbreitet. Zehn Konzerte geben die Scorpions in Leningrad, als erste BRD-Rockband und erste Vertreter schwermetallischer Musik überhaupt. Während sie im eigenen Land belächelt werden, erscheinen sie hier, hinter dem Eisernen Vorhang, als lautstarkes Ausrufezeichen westlicher Dekadenz.
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Die Musiker nutzen ihre Zeit im Osten, schauen sich in den halblegalen, vom KGB geduldeten und überwachten Rockschuppen der Stadt um, jammen mit örtlichen Bands, lernen das Leben jenseits der Fernsehbilder von Militärparaden und greisen Funktionären kennen. Fast hätten sie noch fünf Konzerte in Moskau gegeben, doch so kurz vor den Feierlichkeiten zum 1. Mai ist das den örtlichen Behörden zu riskant. Wer kann schon absehen, welch Funke von 40-jährigen Spandexträgern auf die russische Jugend überspringen würde?
Ein Jahr später ergibt sich endlich die Gelegenheit, im Zentrum des Sowjetreiches aufzutreten. Doc McGhee, der svengalihafte amerikanische Manager der Scorpions, hat es, man weiß nicht wie, geschafft, Funktionäre der KPDSU davon zu überzeugen, im Moskauer Olympiastadion ein zweitägiges Großkonzert zu veranstalten. Mit Künstlern, die bei ihm unter Vertrag stehen. Die Teilnehmer des „Moscow Music Peace Festival“ sollen Russlands Jugend vor den üblen Folgen der Rauschgiftsucht warnen. Dabei gehören zu McGhees Klienten mit der Mötley Crüe, Skid Row und Ozzy Osbourne ausgerechnet die drogenverseuchtesten Acts ihrer Zeit.
Drogen für Noriega
McGhee ist selbst gerade erst knapp einer 20-jährigen Haftstrafe entgangen. Er hat sich schuldig bekannt, einer Bande mit engen Verbindungen zu Panamas Diktator Manuel Noriega geholfen zu haben, 18 Tonnen Marihuana in die Staaten zu schmuggeln. Der Manager versammelt also seine Drogenbeauftragten in einer gecharterten Boeing, „Magic Bus“ getauft, aus der diese in Moskau schwer bedröhnt heraustorkeln, kaum realisierend, wo sie hier gelandet sind. Allein die Scorpions, bei einem Zwischenstopp in London an Bord gekommen, sind sich der Tragweite des irren Unterfangens bewusst.
Zwischen den Konzerten spazieren die Musiker am Ufer der Moskva, ein Fan schenkt Meine eine Balalaika, später fährt man mit einem Tross aus Journalisten, Rotarmisten und Rockmusikern per Schiff zum Gorki Park. „Die ganze Welt in einem Boot“, sagt Meine. Es sind bewegende Momente, umweht vom Windhauch der Veränderung. Für einen Augenblick werden fünf niedersächsische Hardrocker zu Walter Benjamins Engeln der Geschichte. Sie möchten die Verwüstungen der Vergangenheit mit Flying-V-Gitarren heilen, aber sie werden vom Sturm des Fortschritts in die Zukunft geweht. In ein Paradies, in dem alle großen Fragen für alle Zeiten geklärt sind und alle Menschen Brüder. Der Historiker Francis Fukuyma tauft es das „Ende der Geschichte“.
Das Ende der Geschichte
Zurück in Hannover erinnert sich Klaus Meine an diesen Moment, beschreibt in einfachen, eindrücklichen Zeilen den Zauber jener Augustnacht, als ihn die Geschichte umwehte, als ihm die Welt so nah war, wie nie zuvor. Zum ersten Mal komponiert er auch eine Melodie zu einem Text, und weil niemand da ist, sie zu spielen, pfeift er sie einfach. Man kann „Wind of Change“ als kitschtriefenden Powerballade abtun, aber es ist das richtige Lied im richtigen Augenblick. Als die Scorpions es endlich als Single veröffentlichen, ist Berlins Mauer längst gefallen und Deutschland seit einem Monat wiedervereinigt. Und doch ist es, als hätte Meines Pfeifen die Mauer zum Einsturz gebracht. So wie es einst Josuas Posaunen mit der Mauer von Jericho getan hatten.
Oder es war alles ganz anders: In seinem achtteiligen Podcast „Wind of Change“ geht der amerikanische Journalist Patrick Radden Keefe der Theorie nach, dass die CIA das Lied für die Scorpions geschrieben hat. Keefe ist ein seriöser Journalist, „Say Nothing“, sein Buch über die nordirischen „Troubles“, war für den National Book Award nominiert. Ein Ex-Agent hat einem Freund von diesem Meisterstück psychologischer Kriegsführung erzählt, offiziell bestätigen will der die Geschichte nicht, das sei Verschlusssache, stehe unter Hochverrat.
Spione und Ostrock-Groupies
Woraufhin sich der Reporter acht Podcast-Folgen lang auf einen wilden, an Thomas Pynchons frühe Romane erinnernden Recherche-Trip zu Ostrock-Groupies, Spionen mit Mission-Impossible-Masken, Drogenhändlern und Spielzeugsammlern begibt, der schließlich in einem verlassenen Kongresshotel in Burgwedel endet, wo es zum Showdown mit Klaus Meine kommt. Wird der Scorpions-Sänger alles abstreiten? Wird er die Augen zusammenkneifen und wortlos den Raum verlassen? Nein. Meine ist verblüfft. Meint der Typ das ernst? Er lacht. Erst ungläubig, dann wie befreit. „Vielleicht bin ich ja ein Geheimagent?“