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Abstand haltenWie man lernt, sich als Teil eines Ganzen zu verstehen

Lesezeit 5 Minuten

Kunden stehen Schlange vor einem Imbiss im mecklenburgischen Ludwigslust.

  1. Abstand halten ist das Gebot der Stunde. Dafür müssten wir Ego-Tripper wieder lernen, dass wir uns nicht allein im öffentlichen Raum bewegen.
  2. Ein Essay unserer Autorin Roswitha Haring.

Köln – Abstand einhalten heißt Regeln einhalten, ein System befolgen, das ohne Markierungen, Halterungen, ohne sichtbare Anzeigen auskommt und die individuellen Bewegungsrechte noch nicht einmal einschränkt, sondern neu lenkt. Masken sind materiell, haptisch und erkennbar. Ihre Anwendung ist einfach, etwas starr sogar und kennt nur zwei Möglichkeiten, Ja oder Nein, von denen eine inzwischen ordnungswidrig ist.

Abstand wahren erfordert Vorstellungskraft. Vorstellungskraft über sich selbst und den Raum, in dem man sich befindet. Und dieser Raum ist nicht der private, mehr oder weniger überschaubare, sondern der öffentliche mit mobilen und immobilen Objekten in sich ständig ändernden Konstellationen. In diesem Gemenge muss sich der Einzelne verorten können, sich und die Umgebung gedanklich zueinander in Beziehung stellen. Also von einer rein individualistischen Sicht, Empfindung absehen und den Blick auf eine höhere Ebene schieben. Wirklich von oben auf eine Szenerie schauen. Wie in der Draufsicht einer geometrischen Fläche mit dem empirischen Ergebnis: der Einzelne, das Ich ist nur ein Teil unter vielen, nicht Hauptakteur von Bewegungen in einem Raum.

Abstand auch von sich selbst

Das verlangt im besten Sinn Abstand von sich selbst, von einem Ego, einer selbstgewählten Größe, und Hinwendung zu der Sicht, nicht maximaler, sondern gleichrangiger Teil einer sich ständig veränderten Lage, in dieser Straße, in jener Straße, auf diesem Flur, auf jenem und so weiter zu sein.

Aus der Verhaltensbiologie stammt der Begriff Territorialisierung. Darunter versteht man, dass Lebewesen einen Raum, die Fläche, auf der sie agieren, für sich definieren, zu ihrem Territorium machen oder nicht, sich stattdessen fremd, ausgeschlossen darin fühlen. Und der öffentliche Raum, die Wege, Wartezimmer, Supermärkte und Plätze und so weiter sind nichts anderes als so ein Territorium. Die politischen, ideologischen, juristischen Bedingungen entscheiden wesentlich darüber, welche Bereiche interessant, überhaupt möglich für diese Prozesse sind oder nicht.

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In der DDR, einem Land in dem diktatorische Regeln bis in unbedeutendste Alltagsmomente hineinreichten, das Leben von Vorgaben begleitet war, versuchten einige sich Reste von Selbstbestimmung, Aneignung in kleinsten Momenten zurückzuholen. In der Kaufhalle, dem Supermarktunternehmen des Landes, waren am Feierabend und samstags oft alle Einkaufswagen im Umlauf. Schlangen bildeten sich. Ohne Wagen das Geschäft zu betreten, war gar nicht vorstellbar. Einige Kunden sicherten sich ihren Anspruch auf den nächstfreiwerdenden, in dem sie ihre Hand wie ein Bleigewicht auf den Griff legten, während der vorige Nutzer noch mit Einpacken beschäftigt war. In den meist gutgefüllten Restaurants stellten sich potenzielle Gäste direkt hinter den Stuhl gerade zahlender Besucher, legten manchmal sogar ihre Hand auf die Lehne, um ihren Verteidigungswillen anzuzeigen.

Verließen Menschen eine Warteschlange vor einem Geschäft, vor der Käsetheke in der Kaufhalle, weil sie kurz mit jemanden sprechen wollten oder etwas aus der Kühltruhe nahmen, schlossen Dahinterstehende diese Lücke sofort, als verließe die Person die Reihe für immer. Sie kam natürlich zurück, und mit Unmut wurde die vorige Situation wieder hergestellt.

Kampf um jeden Sitzplatz in der DDR

Ganz abgesehen von im ganzen Land demolierten Telefonzellen. Als führten manche einen Krieg gegen die Kontaktwünsche anderer, waren neidisch und verordneten allen Einsamkeit, wie sie sie selbst empfanden. Bis hin zum Kampf um Sitzplätze in der Straßenbahn. Nicht nur, dass die Leute in die Bahn und dann zu den Sitzen stürmten. Es geschah, dass sich gerade niedersinkende Mensch auf dem Schoß eines noch eilig dazwischen rutschenden zu sitzen kamen.

Rentner wurden mit so geringen Einkommen vom Staat versorgt, dass ihr Dasein kaum anders als überflüssig zu interpretieren war, obwohl viele, eben wegen der geringen Rente, noch arbeiteten. In Parks war es verboten, sich auf der Wiese aufzuhalten, ganz undenkbar an diesen öffentlichen Orten grillen zu wollen. Beschränkung war im Osten wie ein Dogma. Das Gefühl, nicht aktiver Teil der Gesellschaft zu sein, von den überallhinreichenden Regeln grundiert.

In der Bundesrepublik gehören nicht nur Freiheit der Meinungsäußerung, Reise-, Bewegungsfreiheit, auch der Besitz von Wohneigentum zu den Grundrechten. Eigentum wird sogar sprachlich mit Wohneigentum gleichsetzt, obwohl auch Kleidung und so weiter zum Eigentum des Einzelnen gehören. Menschen können Raum kaufen, Wohnungen, Häuser, und werden für diese Anschaffung, die meist keine ist, sondern von einem Geldinstitut geleistet wird, an das sie dann Jahrzehnte gebunden sind, anerkannt. Dieser Kauf auf Pump leistet bei manchen auch dem Selbstbewusstsein Vorschub, verschafft ihnen eine Sicherheit, in der für lange Zeit Pflichten, eine Unflexibilität für die Gestaltung des Lebens liegt. Eine Territorialisierung auf dem Papier, einem Kaufvertrag, den die Gesellschaft als Verdienst wertet.

In der Mitte des Fußwegs gehen

In der Mitte des Fußweges gehen. Kaum Platz zur Vorderfrau, zum Vordermann lassen. Die nächste freie Treppenstufe wählen. Nicht ausweichen, niemanden vorbeilassen, in kleinen, großen Gruppen zusammengehend, -stehend andere behindern. Das kann auch Unaufmerksamkeit sein. Aber die auf das Individuum, auf Besitzrechte, Freiheitsrechte fokussierte Gesellschaft schiebt die Pflicht, die Bedeutung für Sozialverhalten auf einen Nebenschauplatz, weitet dafür den geistigen Raum viel weniger als für die Profilierung des Einzelnen. Die Stärkung des Individuums ist ein durch alle gesellschaftlichen Bereiche sich ziehendes Ziel, das scheinbar ohne Verluste nur Gutes mit sich bringt.

In der DDR war die Zurücknahme des Ich, Demut vor der Persönlichkeit des Menschen, vor Aufgaben bloß verordnet. Die Menschen übten sich nicht freiwillig darin. Die Propaganda zielte auf Mittelmaß, nicht auf Individualität. Was auch für Städte, Regionen, Traditionen galt, die Einzigartiges zugunsten eines Einheitlichen schmälern mussten.

In der Bundesrepublik dagegen erfährt das Ego, die Durchsetzungskraft des Einzelnen stets Rückhalt. Der öffentliche Raum, der niemandem gehört, keinen Besitzer hat, wird zur Selbstdefinition benutzt. Dabei erscheinen die Zurücknahme des Ich, Demut, Distanz wie eine versickerte Ressource. Manchmal allerdings geschieht Überraschendes. Passanten treten zur Seite und öffnen den Weg für Entgegenkommende. Höflichkeit als physische Anzeige für Respekt und Ausdruck eines Miteinanders. Sie lächeln sogar, und trotz Maske ist das Übereinkommen unübersehbar.