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„Alle meine Geister“Wie Uwe Timm in der Nachkriegszeit mit Pelzen arbeitete

Lesezeit 5 Minuten
Der Schriftsteller Uwe Timm liest am 15.10.2017 in Köln bei der Lit.Cologne Spezial, dem internationalen Literaturfest.

Der Schriftsteller Uwe Timm bei der Lit.Cologne Spezial

Uwe Timms neuer Roman „Alle meine Geister“ schildert seine Ausbildung als Kürschner im Hamburg der 50er Jahre. Der Autor wird seinen Roman am 18. Oktober bei der lit.Cologne vorstellen.

„Im Sommer und Herbst 1956 habe ich Dostojewski gelesen, Roman um Roman, keine Zigaretten, kein Alkohol, ich war süchtig nach Worten. Kam nach der Arbeit nach Hause, aß mit Mutter, Vater und Schwester zu Abend und zog mich in mein kleines Zimmer, den Alkoven, zurück.“ Nun ja, das ist, so könnte man mutmaßen, die typische Coming-of-Age-Geschichte des kommenden literarischen Autors.

Was soll der schon anderes machen, als Bücher zu lesen? Da läuft sich halt jemand für die eigene Karriere warm. Etwas bedenklich mag die Mitteilung freilich schon anmuten: Es ist ein 16-jähriger, der Dostojewski liest, und es stellt sich naheliegend die Frage, ob da nicht jemand über den Büchern das Leben verfehlt. Keine Zigaretten und kein Alkohol, das mag okay sein. Aber kein Kontakt mit Gleichaltrigen, kein Kontakt mit Mädels?

Uwe Timms neuer Roman „Alle meine Geister“

Aber abgesehen davon, dass es in Uwe Timms autobiografischer Erzählung „Alle meine Geister“ diese Kontakte sehr wohl gibt, vom züchtigen Tanztee bis zur Tour durch die Kneipen und Bars der Hamburger Reeperbahn – es ist ein heute 83-Jähriger, der sich seiner selbst sozusagen in einem früheren, nahezu 70 Jahre zurückliegenden Aggregatzustand vergewissert. Da kann distanzierende Ironie nicht ausbleiben – wer will schon, ob er nun Uwe Timm heißt oder anders, behaupten, er sei sein ganzes langes Leben lang mit sich selbst identisch gewesen. Erstrebenswert und sympathisch wäre der Versuch eines solchen Nachweises jedenfalls keineswegs.

So oder so liegt es nahe, dass sich jemand im Herbst seines Erdendaseins der eigenen Anfänge vergewissert und, so er ein Schriftsteller ist, dies in Buchform tut, gleichsam einen Bildungsroman in eigener Sache schreibt. Was die Timm’sche Frühgeschichte anbelangt – es geht im Kern um die Jahre zwischen 1955 und 1961 –, so wird diese dadurch spektakulär, dass sie „hauptberuflich“ durchaus nicht im Zeichen der Literatur stand.

Tolstoi, Camus, Kafka und Salinger prägen seine Jugend

Ein Volksschüler mit anständigem Abgangszeugnis, aber notorischer Rechtschreibschwäche – da war es einstweilen nichts mit Gymnasium und Geisteswissenschaften. Vielmehr meldet der Vater, Inhaber des seinerzeit gutgehenden Hamburger Geschäfts „Pelze Timm“, den 14-Jährigen beim illustren Konkurrenten Erich Levermann für eine Lehrstelle zur Erlernung des Kürschnerhandwerks an.

Die absolviert Timm dann bis 1958 erfolgreich – freilich nicht ohne auch zu fremdeln mit den Verhältnissen in der Firma, mit den kleinen Vergnügungen und großen Enttäuschungen der in die Betriebsabläufe eingezwängten Angestellten, die den leicht verträumten Jungen ihrerseits tendenziell als Paradiesvogel wahrnehmen. Und er sucht sich im Betrieb seine Nischen, wo er weiter ungestört lesen kann – Tolstoi, Camus, Kafka, Salinger. Der Existenzialismus öffnet dem Jugendlichen eine neue Welt.

Das Buch schildert das Leben in der Nachkriegszeit

Man erfährt in Timms fesselnd-flüssiger und abwechslungsreicher Darstellung nicht nur viel über das altehrwürdige Kürschnerhandwerk, das der wachsende gesellschaftliche Widerstand gegen die „Ermordung“ von Pelztieren in die Existenzkrise stürzen sollte. Es geht auch um Kundenwünsche und Modetrends, und lebendig wird allemal die Arbeitswelt der ausgehenden 50er Jahre – mit einem Chef, der autoritär den Herrn im Haus markiert, und Mitarbeitern, die darob die Faust in der Tasche machen (müssen).

Timm lernt einige von ihnen auch privat kennen und taucht dabei ein - nicht nur in unvermutete (künstlerische) Interessenssphären, sondern auch in lebensgeschichtliche Verwerfungen und Versagungen. Da gibt es zum Beispiel den Meister Kruse, den linken SPDler, der einst im Widerstand gegen die Braunen war und nun mit Erbitterung sieht, wie sich die alten Nazis in Politik, Justiz und Bildungswesen wieder breit machen. Die Bekanntschaft gerät für den jungen Timm zum politischen Initiationsritus: „Walther Kruse begleitet mich mit seinem kritischen Blick auf die Gesellschaft und auf die deutsche Geschichte. Meine vom Elternhaus geprägten Argumente, dass jeder doch seines Glückes Schmied sei, es allein darauf ankomme, zu wollen, zu können, tüchtig zu sein, widerlegte Kruse geduldig mit Beispielen, wie und wodurch diese freie Entfaltung verhindert werde.“

Der Umgang mit der NS-Vergangenheit wird zum Streitpunkt

Klar, dass es, als Kruse dem jungen Timm Eugen Kogons berühmtes Buch „Der SS-Staat“ zu lesen gibt, zu den generationsspezifischen, bereits die 60er Jahre vorwegnehmenden Auseinandersetzungen in der Familie und zumal mit dem Vater kommt: „Damit verschärfte sich abermals der bis zu seinem Tod dauernde zähe Streit über die Vergangenheit, ein Streit über den Sinn des Todes meines Bruders, der sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hatte – der tapfere, anständige Junge, der mir ein Vorbild sein sollte.“

Dem frisch gebackenen Kürschnergesellen gelingt es dann nach dem plötzlichen Tod seines Erzeugers, dessen völlig überschuldetes Pelzgeschäft binnen weniger Jahre wieder auf Kurs zu bringen – der Kritiker des Kapitalismus bewährt sich als kapitalistischer Sanierer! Günstige Umstände, Intelligenz, zäher Wille und eine ziemlich genaue Vorstellung von der eigenen Lebenszukunft – eben mit Büchern, nicht mit Pelzen – bahnen dem jungen Timm dann den Weg in eine andere Existenzform: 1961 gelingt ihm die Aufnahme ins Braunschweig-Kolleg, eine Einrichtung der Erwachsenenbildung, wo er binnen gut zwei Jahren das Abitur nachholt – um danach in München und Paris zu studieren. Mitschüler in Braunschweig ist übrigens ein gewisser Benno Ohnesorg – die Zukunft wirft ihre Schatten voraus.

Sicher lässt sich das Buch auch als Blick in die Formationsphase des künftigen Autors lesen. Aber die Zeit, die es vergegenwärtigt, steht hier auch für sich, es wird ein Stück weit historische Archäologie betrieben. Das geschieht, ohne dass in der Darstellung ein Kunstanspruch angestrengt forciert worden wäre, auf höchst eindringliche Weise – wir blicken in die Vorgeschichte unserer Gegenwart wie in einen fernen Spiegel.


Zum Buch und zur Veranstaltung

Uwe Timm wird im Rahmen der lit.Cologne seinen Roman „Alle meine Geister“ vorstellen. Die Veranstaltung findet am 18. Oktober, 18 Uhr, im WDR Funkhaus statt. Moderation: Thomas Laue. Alle Infos gibt es hier.

Wir verlosen für die Veranstaltung 5 x 2 Karten. Bitte schreiben Sie bis 6. Oktober eine Mail mit ihrem vollen Namen und dem Betreff „Uwe Timm“ an ksta-kultur@kstamedien.de

Uwe Timm: „Alle meine Geister“, Kiepenheuer & Witsch, 280 Seiten, 25 Euro.