Ruth Klügers Erinnerung an Ausschwitz erreichten ein großes Publikum. Die Verstorbene verfasste aber auch literaturwissenschaftliche Essays, die nun in zwei Sammlungen erscheinen.
Buch einer Holocaust-ÜberlebendenEin Appell, es mit der Wahrheit genau zu nehmen
„Anders lesen“: das heißt, nicht gerührt und unkritisch lesen, sondern mit Verstand, unbequem und, wenn es sein muss, auch gegen den Strich. Dieses Motto hat Ruth Klüger in ihren Büchern auf unnachahmlich pointierte Weise beherzigt. Es sind Querlektüren aus einer besonderen, beispielhaften und deshalb im Wortsinn wahren Biografie.
Ruth Klüger überlebte den Holocaust
Ruth Klüger hatte den Holocaust überlebt, betonte aber, dass sie nicht aus Auschwitz komme, sondern aus Wien stamme, 1931 im „Hause des Henkers geboren“. Aus Wien war sie in die Konzentrationslager Theresienstadt und Auschwitz-Birkenau deportiert worden, nach dem Krieg emigrierte sie in die USA, studierte dort deutsche Literatur, wurde 1980 erste Germanistik-Professorin in Princeton und kam aus ihrem späteren Domizil in Kalifornien immer wieder nach Deutschland, vor allem nach Göttingen, um zu lehren, zu forschen und zu lesen.
Der Ruhm kam spät, mit dem Erscheinen ihrer Überlebensgeschichte „weiter leben“. Das war im Jahr 1992. Wie sie danach weit über die akademische Öffentlichkeit hinaus ausstrahlte, das belegen nun, drei Jahre nach ihrem Tod, sehr eindrucksvoll zwei Bücher: einmal eine neue Sammlung mit ihren Aufsätzen über Juden und Frauen in der deutschen Literatur und sodann die erste Übersicht über ihr literarisches und wissenschaftliches Werk, beide herausgegeben von ihrer Nachlassverwalterin Gesa Dane.
Sie beendete nach „Tod eines Kritikers“ die Freundschaft zu Martin Walser
Wie differenziert und quer zu den herrschenden Strömungen Ruth Klüger deutsche Literatur zu beschreiben und zu lesen verstand, wird hier aufs schönste erhellt. Mit ihren Aufsätzen über jüdische Figurationen setzte sie Meilensteine für die Jewish Studies und warb für eine im guten Sinne eigensinnige feministische Literaturwissenschaft. Sie redete Klartext.
Als Martin Walser seinen Roman „Tod eines Kritikers“ publizierte, warf sie ihm vor, Juden darzustellen, die „Produkte von Judenfeindlichkeit“ seien, und beendete eine jahrzehntelange Freundschaft. Sie machte Einwände, auch sich selbst gegenüber. Nachdrücklich forderte sie zum Nachdenken über kitschige Wiedergutmachungsfantasien auf und folgte den Spuren eines literarischen Antisemitismus, zurück bis in die Aufklärung. Ihre erste Aufsatzsammlung „Katastrophen“ (1994) ist eine verkappte Literaturgeschichte.
„Anders lesen“ hat einen kritischen Blick
Klügers Verleger Thedel von Wallmoden tat einen Glücksgriff, als er seinerzeit ihre Autobiographie publizierte. In seinem Beitrag rückt er die Legende von der Odyssee dieses Buches durch deutsche Verlage zurecht. Er berichtet über die von Klüger verfasste englische Ausgabe „Still Alive“ (2001) und erschließt das Ringen um den finalen Titel. „Aussageverweigerung“ sollte ja das Buch zuerst heißen, andere Titeloptionen, „Stationen“, „Aufenthalte“, „Prägungen“, wurden verworfen.
Für Ruth Klüger war die Muttersprache, die ja auch die Sprache der nationalsozialistischen Mörder war, eine belastende Sache, Rucksack und Buckel. Aber immer auch ein Mittel, um den Lesenden die Wahrheit zuzumuten. Literatur, die wertvoll ist, so sagt sie, nimmt es mit der Wahrheit sehr genau. Sie beschönigt und verschleiert nicht. Wer liest, betrachtet, was die Literatur aus der Realität holt: Wie kommen Elemente aus dem antisemitischen Baukasten in Romane? Was wäre aus Heine, der in den Kinderjahren der Germanistik ganz unorthodox die „Romantische Schule“ erforscht hat, als Professor geworden? Wozu lässt die Bibel mit Sarah und Elisabeth alte Frauen in der Gegenwart mitspielen? Und warum verschweigen Schnitzlers Dramen das Recht der Kranken auf Wahrheit?
Die Kunst ist dazu da, um die Wahrheit zu sagen. Bücher, die wahre Geschichten enthalten, sind anders zu lesen als solche, die sich als Geschichte ausgeben. Das können wir von Ruth Klüger lernen. Ihre Nachlassbände stacheln zu einem anderen Lesen an, als wir es gewohnt sind. Zu einem spannungsvollen Lesen, das nicht ohne Widersprüche, aber frei von Lügen ist.
Zu den Büchern
Ruth Klüger: Anders lesen. Juden und Frauen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Und 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Gesa Dane. Göttingen: Wallstein, 2023.
„Ich kann eigentlich nichts als lesen und schreiben“. Zum literarischen und literaturwissenschaftlichen Werk von Ruth Klüger. Hrsg. von Gesa Dane und Gail K. Hart. Göttingen: Wallstein, 2023.