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Andocken am Machtpol

Lesezeit 5 Minuten

Kanye West (Mitte) während seines Besuchs bei Donald Trump (links) im Weißen Haus

Der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf ist gerade noch ein bisschen seltsamer geworden: Pünktlich zum Unabhängigkeitstag hat der Rapper, Unternehmer und Modedesigner Kanye Omari West seine Kandidatur auf Twitter bekannt gegeben. „Wir müssen jetzt Amerikas Versprechen verwirklichen, in dem wir Gott vertrauen, unsere Vision vereinigen und unsere Zukunft bauen. Ich kandidiere für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten“, schriebt West, gefolgt von einem Emoji der US-Flagge und dem Hashtag #2020VISION.

Der 43-Jährige liebäugelte zuerst im September 2015 öffentlich mit einer Kandidatur. Als „20/20 vision“ bezeichnet man in den USA die uneingeschränkte Sehkraft: den totalen Durchblick. Eben den werden wohl die wenigsten seiner Landsleute West bescheinigen.

Der HipHop-Produzent ist in den vergangenen Jahren immer wieder durch verstörende Aktionen und sprachliche Ausrutscher aufgefallen. Insbesondere im Zusammenhang mit amerikanischen Präsidenten. Etwa als er 2005 während eines Benefizkonzertes zugunsten von Opfern des Hurrikans Katrina vor laufenden Kameras ausrief: „George Bush sind schwarze Menschen egal.“ Bush nahm sich diesen Kommentar so zu Herzen, dass er ihn noch Jahre später als Tiefpunkt seiner Amtszeit bezeichnete. Als West 2009 während der MTV Video Awards die Bühne stürmte, sich das für Taylor Swift bereitgehaltene Mikrofon schnappte und verkündete, dass nicht Swift, sondern Beyoncé den Preis für „Best Female Video“ verdient habe, konnte sich der damalige US-Präsident Barack Obama eines Kommentars nicht enthalten: Er schalt West einen „jackass“, was man im Kontext als „Vollpfosten“ übersetzen könnte.

Als Donald Trump ins Weiße Haus einzog, gehörte West zu den wenigen Künstlern, die ihn offen unterstützten: Eine „Make America Great Again“-Baseballkappe tragend besuchte der Rapper Trump im Oval Office, eröffnete dem verdutzten Präsidenten vor der versammelten Presse, dass er ihn liebe und setzte daraufhin zu einem wirren Monolog an, dessen Ende er mit einem Schlag auf den Eichenschreibtisch und den Worten „crazy motherfucker“ unterstrich. „Sehr eindrucksvoll“, lobte Trump, selbst berüchtigt für seine erratischen Reden. Das erinnerte an Elvis Presleys Treffen mit Richard Nixon. Nur, dass hier ein narzisstischer Herrscher seinen Meister gefunden hatte.

Da wandten sich selbst diejenigen Freunde und Kollegen von West ab, die das noch nicht getan hatten, als er wenige Monate zuvor die Sklaverei als eine „Wahl“ bezeichnete, die Afroamerikaner getroffen hätten. Für viele andere war West lange zuvor zur komischen Figur geworden, zum Anhängsel seiner Frau Kim Kardashian, bekannt aus der Reality-TV-Serie „Keeping up with the Kardashians“. Das ungleiche Celebrity-Paar wirkt wie die Bizarro-Version von Beyoncé und Jay-Z. Ist West also nur ein Trash-Promi, den allein seine gut laufenden Geschäfte vor dem fälligen Auftritt im Dschungelcamp bewahren?

Das ist nur die halbe Wahrheit. Die ganze lautet: Kanye West ist der wichtigste Künstler des 21. Jahrhunderts. Das muss man freilich erklären: West begann seine Karriere als Beatbastler für andere Rapper, seine Beiträge für Jay-Z’s Album „The Blueprint“ – veröffentlicht am 11. September 2001 – katapultieren ihn an die vordere Front der Hip-Hop-Produzenten.

Aber West wollte selbst im Rampenlicht stehen. Ein schwerer Autounfall, den er mit einem zertrümmerten Kiefer überlebte, verlieh seinem Traum die nötige Dringlichkeit: Noch mit verdrahtetem Gebiss nahm er die Single „Through the Wire“ auf, präsentierte sich als Underdog mit eisernen Willen. Das Stück brachte es bis zum 15. Platz der Billboard-Charts und garantierte dem Jungstar den ersehnten Album-Vertrag. Dieses Debüt, „The College Dropout“, schrieb die HipHop-Regeln neu. Sein einschmeichelnder Sound – Wests Markenzeichen waren hochgepitchte Soul-Samples – begeisterte auch das Pop-Publikum, seine Themenbreite und sein Hang zur Selbstbeobachtung beendete die Vorherrschaft des Gangsta-Rap. West war ein Kind der Mittelklasse und stolz darauf.

Auf seinem Zweitling, „Late Registration“, perfektionierte er seine geschmeidigen Produktionsmethoden, vertiefte die Introspektion und öffnete sich gleichzeitig der Welt. Am Ende des Jahres 2005 führte das Album fast alle Bestenlisten an.

Fünf Jahre später sollte er diesen Erfolg noch übertreffen: An „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ hatte West rund um die Uhr in drei Studios gearbeitet, mit einer kleinen Armee an prominenten Kollegen und jungen Kreativen. „Fantasy“ markiert die Hochbarock-Phase des Hip-Hop: Mehr Dramatik, mehr Prunk, deleuzesche Verfaltungen bis ins Unendliche.

Noch interessanter sind die Projekte, die zuerst auf Ablehnung stießen: Auf „808s & Heartbreak“ trauerte er mit Hilfe der titelgebenden Drum-Maschine und Autotune-Gesang um seine Mutter. 2008 galt das als erster Fehltritt des Rappers, heute als das Album, das andere prägende Künstler der Zehner Jahre, wie Drake und Frank Ocean, möglich gemacht hat.

Nicht anders verhielt es sich mit „Yeezus“ (2013), das mit skandalträchtigen Texten und grob geschmirgelten Keyboard-Flächen schockte. „Yeezus“ ist für den HipHop das, was Beethovens Proto-Boogie-Woogie in der Klaviersonate Nr. 32 für die Klassik oder The Velvet Undergrounds „White Light/White Heat“ für die Rockmusik bedeuteten: Ein ruppiges und weit vorausgreifendes Aussetzen aller Konventionen. Im Ästhetischen macht Wests schier grenzenlose Selbstüberzeugung Sinn: Kein Künstler seiner Preisklasse ist in den vergangenen Jahren ähnliche Wagnisse eingegangen.

Die Veröffentlichungen nach „Yeezus“ konnten die hier gewonnene Freiheit nicht mehr überflügeln. Der Künstler versucht sich selber zu vermehren und dockt – schreibt der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit im „Buch der Könige“ – dabei am Machtpol an. Das kostet ihn, wie Theweleit an Beispielen von Gottfried Benn bis Michael Jackson nachweist, am Ende die Kunst. Insofern ist Kanye Wests kuriose Präsidentschaftskandidatur nicht nur eine Farce, sondern auch eine Tragödie.