Die peruanische Schriftstellerin Gabriela Wiener spürt im Roman „Unentdeckt“ der Kolonialvergangenheit ihres mutmaßlichen Vorfahrens Charles Wiener nach.
Auf den Spuren kolonialer GewaltAutorin beleuchtet unrühmliche Vergangenheit

Schriftstellerin Gabriela Wiener
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Als Gabriela Wiener durch ein ethnologisches Museum in Frankreich läuft, so steht es in ihrem autobiografischen Roman „Unentdeckt“, erkennt sich die Peruanerin in den ausgestellten prähispanischen Portrait-Keramiken wieder. „Das Merkwürdigste daran“, schreibt Wiener, „ist der Gedanke, dass all diese mir gleichenden Statuetten dem kulturellen Erbe meines Landes von einem Mann entrissen wurden, dessen Nachnamen ich trage.“
Wieners mutmaßlicher Ururgroßvater Charles Wiener, ein österreichisch-französischer Entdeckungsreisender, plünderte im 19. Jahrhundert rund 4000 indigene Artefakte in Peru. Seine Beute brachte er nach Europa, wo man sich die Raubkunst noch heute in Museen wie dem Pariser Musée du Quai Branly anschauen kann. Mit Charles Wiener haben sich einige Wissenschaftler beschäftigt. Viel unbekannter hingegen ist die Geschichte der potenziellen peruanischen Nachfahren von Wiener, der während seines Aufenthalts in Lateinamerika wahrscheinlich eine Frau schwängerte.
Gabriela Wiener bricht mit dem gängigen Narrativ
Die Lebensrealität von deren Nachkommen macht die Schriftstellerin und Journalistin Gabriela Wiener nun sichtbar. In ihrem Buch „Unentdeckt“, mit dem sie 2024 für den International Booker Prize nominiert war, folgt Wiener nicht nur der Mission ihres angeblichen Ururgroßvaters – sondern damit auch den Spuren kolonialer Gewalt.
Für viele Historiker gilt Charles Wiener zwar als schlampiger Wissenschaftler, aber auch als erfolgreicher „Urheber“ einer Sammlung indigener Kunstwerke. Gabriela Wieners Erzählung bricht mit diesem Narrativ, denn sie handelt von der Geschichte eines Plünderers, der sich fremder Kulturgüter bemächtigte, in Lästereien über die Bevölkerung Perus aufging und ein indigenes Kind entführte in dem Glauben, es „zivilisieren“ zu können.
Vor allem aber geht es in „Unentdeckt“ um Gabriela Wiener selbst, die, wie sie schreibt, zugleich Nachfahrin und Studienobjekt eines europäischen Wissenschaftlers ist. Ihr Buch erzählt die Geschichte des Kolonialismus aus einer bisher kaum gehörten Perspektive, die den vermeintlichen Triumph weißer Patriarchen über ganze Völker nicht etwa glorifiziert, sondern als narzisstische und imperialistische Machtdemonstration entlarvt.
Das Buch ist eine Identitätssuche
Im Gespräch mit dem Kölner Stadt-Anzeiger sagt Gabriela Wiener, sie habe ein besonderes Interesse an persönlicher und autobiografischer Literatur. Das zeigen ihre bisherigen Bücher über Sex, Migration und Schwangerschaft. Sie wurden und werden vielfach übersetzt, „Unentdeckt“ zum Beispiel in acht Sprachen.
Im Jahr 2003 zog Wiener nach Spanien, wo sie heute unter anderem für die Zeitung El País schreibt. Seit ihrer Auswanderung aus Peru, einer ehemaligen Kolonie Spaniens, habe Wiener, wie sie sagt, viel über ihre Identität nachgedacht. „Meine Arbeit an ‚Unentdeckt‘ war auch eine Identitätssuche“, erklärt sie. „Charles Wiener gilt als gelehrter Europäer, der mit seinen Entdeckungen etwas geleistet hat für die Menschheit. Ich will das nicht leugnen, aber ich halte es für wichtig, auch eine andere Version der Geschichte zu erzählen.“
Geschützt durch einen „weißen Nachnamen“
In ihrem Buch beschreibt Wiener, wie sie als Kind nach rassistischen Beleidigungen die Hand ihres Vaters nahm, „damit alle Welt sehen konnte, dass dieser immerhin ein bisschen weiße Herr mein Papá war, das machte mich weniger Schwarz, weniger Zielscheibe von Demütigungen.“ Charles Wiener zum Ururgroßvater zu haben, sagt Gabriela Wiener im Interview, habe sie in eine Person verwandelt, die zwar Rassismus erfuhr, sich aber durch einen „weißen Nachnamen“ geschützt fühlte. „Diesen internalisierten Rassismus wollte ich mit meinem Buch genauso verurteilen wie den Rassismus von außen“, erklärt Wiener.
Und das gelingt ihr: Zum einen ist „Unentdeckt“ durchzogen von Passagen, die Einblicke gewähren in die Fremdbestimmung einer Migrantin im Land ihres ehemaligen Kolonisators. Dort wird die Schriftstellerin wegen ihrer Herkunft für das Kindermädchen ihrer eigenen Tochter gehalten und von einer älteren Spanierin gefragt, wie viele Häuser sie denn putze, sie komme doch aus Peru und man brauche hier gerade eine neue Reinigungskraft.
Internalisierter Rassismus in einer bedrohlichen Welt
Zum anderen thematisiert der Roman auch jenen internalisierten Rassismus, den die Autorin verurteilen möchte. Zum Beispiel in dem Kapitel, in dem die polyamoröse und bisexuelle Wiener erzählt, dass sie bei Frauen immer das anziehend gefunden habe, was sie sich für sich selbst gewünscht hätte: Schlank und weiß sein. Wiener beschreibt im Buch, wie destruktiv das Gefühl sei, nicht begehrt zu werden, weil Schwarze Körper als hässlich und abstoßend gelten würden. Die Protagonistin entwickelt so einen verstärkten Drang nach Bestätigung und Liebeszuwendung durch ihre Partner.
Das Gefühl, sich anpassen und vermeintlich Erstrebenswertes annehmen zu müssen, dieser internalisierte Rassismus gehe von einer Welt aus, „die dich bedroht“, sagt Wiener. Auch Charles Wiener habe dieser Bedrohung unterlegen. Er konvertierte als österreichischer Jude in Frankreich zum Katholizismus und änderte seinen Namen Karl zu Charles, „um französisch zu werden“, wie es Gabriela Wiener ausdrückt. Den Holocaust überlebt hat er wahrscheinlich trotzdem nur, weil er zwanzig Jahre vorher starb.
Gabriela Wiener: „Unentdeckt“ (deutsch von Friederike von Criegern, Kanon Verlag, 22 Euro). Wiener ist am 28. März, 18 Uhr, bei der lit.Cologne zu Gast. Mit Moderator Hernán D. Caro spricht in der DEG, Kämmergasse 22, über ihr Werk, die deutschen Texte liest Jasmin Tabatabai. Karten kosten im Vorverkauf 22 und ermäßigt 16 Euro, an der Abendkasse 26 und ermäßigt 22 Euro.