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Auftritt in KölnSo hart rockten Kiss auf ihrem letzten Deutschland-Konzert

Lesezeit 5 Minuten
Gene Simmons (v.l.), Tommy Thayer, Eric Singer und Paul Stanley spielen in der Kölner Lanxess-Arena ihr letztes Deutschland-Konzert.

Kiss auf ihrem letzten Deutschland-Konzert in der Kölner Lanxess-Arena.

In der ausverkauften Kölner Lanxess-Arena spielten Kiss ihr letztes Deutschland-Konzert. Es war bombastisch, aber es ist auch Zeit aufzuhören.

Ihr wolltet die beste, geht die altbekannte Ansage, und ihr bekommt die beste, die heißeste Band der Welt: Kiss. 16.000 Menschen jubeln, schlagen Fäuste in die Luft. Viele haben alte Fan-Shirts von vergangenen Touren ganz hinten im Schrank gefunden und nicht wenige tragen das Make-up ihrer Jugend-Ikonen. Die erscheinen jetzt auf den Bildschirmen, verlassen den Backstage-Bereich im vollen Ornat, vier alte Weißclowns auf dem Weg zur Arbeit. Und schon sprühen Funken wie im Stahlwerk, züngeln die Flammen der Hölle, explodiert der größte Knallfrosch des Universums und aus Clowns werden Helden.

Kiss in Köln: 16.000 Menschen feiern Rock-Giganten in Deutz

Es riecht nach Schwefel in der Kölner Lanxess-Arena. Die Bandmitglieder schweben unter großem Getöse auf dampfenden Plattformen auf die Bühne herab, aber den banalen Boden berühren sie nie, dank ihrer absurd hohen Plateausohlen. Die beiden Originalmitglieder – Paul Stanley, das Sternenkind, und Gene Simmons, der Dämon – haben die 70 überschritten, aber als Rock-Götter bleiben sie ewig jung. Oder sie wären es zumindest gerne. Aber dann spielen sie „Detroit Rock City“, die Geschichte eines Rockstars, der auf dem Highway zu seiner Mitternachtsshow rast und, aufgepumpt vom eigenen Song im Radio, den herannahenden Truck übersieht.

Gene Simmons steht auf der Bühne in der Kölner Lanxess-Arena.

Gene Simmons im „Demon“-Outfit.

Rumms. Wumms. Die Pyrotechnik übertönt die Musik. Der Innenraum wird zum Schützengraben. Trommelfelle würden, wenn sie das nur könnten, weiße Fahnen schwenken. Man ist wieder so überwältigt wie einst im Kinderzimmer, das Doppelalbum „Alive!“ aufgeklappt auf dem Schoß. Schon damals mussten Kiss einige Parts im Studio neu aufnehmen, weil zu viele Explosionen die Live-Aufnahmen verzerrt hatten.

Kiss ist als Band eine Marke

Auf dem Cover von „Destroyer“, ihres vierten Studioalbums aus dem Jahr 1976, zeigten sich die Musiker dann zum ersten Mal als Comic-Figuren. Seitdem sind sie mehr als eine Band, sie sind eine Marke. Ihre Konterfeis erschienen auf Frühstücksdosen, Brettspielen und Flipperautomaten. Ihre Comic-Avatare kämpften in einer eigenen Marvel-Reihe. Später, als Eric Singer (am Schlagzeug) und Tommy Thayer (als Lead-Gitarrist) die Gründungsmitglieder Peter Criss und Ace Frehley ersetzten, übernahmen sie auch deren Make-up. Die Masken sind die Wahrheit von Kiss, was sich dahinter verbirgt ist gar nicht so interessant.

Oder doch: Die übermenschlichen Kiss-Personä wurden, wie fast alle Comic-Superhelden, von zwei jungen jüdischen Männern kreiert. Gene Simmons wurde als Chaim Witz in Israel geboren, von seiner Familie hatte nur die Mutter den Holocaust überlebt. Paul Stanley wurde als Stanley Bert Eisen geboren, seine Familie war aus Deutschland und Polen vor den Nazis geflohen. Die Geschichte von Kiss ist also auch eine Geschichte der Selbstermächtigung. Das spürt man bis heute.

Kiss, das ist auch eine Geschichte jüdischer Selbstermächtigung

Aber nun scheint das Ende des Weges erreicht. „Es ist das zweite Mal, dass wir hier spielen und auch das letzte Mal“, verkündet Paul Stanley kurz vorm Ende des Konzerts der enttäuscht aufschreienden Menge. Die Kölner Show soll ihre letzte in Deutschland sein. Zwar war Kiss bereits vor 20 Jahren zum ersten Mal auf Abschiedstour, aber diesmal könnte es wirklich so weit sein.

Gene Simmons (v.l.), Tommy Thayer, Eric Singer und Paul Stanley spielen in der Kölner Lanxess-Arena ihr letztes Deutschland-Konzert.

Eine Band als Marke: Kiss auf der Bühne der Lanxess-Arena.

Wie lange kann Stanley noch über die Köpfe des Publikums hinweg zur kleinen Bühne weit hinten im Innenraum fliegen? Wann wird Simmons zu gebrechlich, als dass er noch mit innerer Überzeugung „Ich bin eine Kriegsmaschine“ knurren kann? Zuletzt musste der Manager der Band zugeben, dass Stanleys Gesang von zuvor aufgenommenen Tracks unterstützt wird. Und alle paar Stücke übernimmt Simmons die Lead-Vocals, damit sich der einst beste Shouter im Hardrock-Geschäft erholen kann.

Viel irritierender als eventuelle Backing-Tracks sind sowie Stanleys Ansagen zwischen den Songs. Die spricht der Sänger in einer abstrus gequetschten Stimme, die klingt, als hätte er sich just in diesem Moment einen Bruch zugezogen. Oder als wäre er seine eigene, über Gebühr erregte Bauchrednerpuppe. Hat die Maske die Gewalt übernommen, wie im Jim-Carrey-Film?

Gene Simmons spuckt Feuer, speit Blut

Einfacher und effektiver kommuniziert Simmons. Spuckt Feuer, lässt Kunstblut aus seinem Mund tropfen, züngelt mit der berühmtesten Zunge der Welt. Mehr muss hier nicht gesagt werden. Aber was wird denn eigentlich gesagt? Kiss-Texte setzen sich zu 90 Prozent aus Sex- und Partyprotzereien zusammen. Wer hat den längsten, wer kann am längsten? Kiss. Gegen Kiss-Texte wirkt Queens „We Will Rock You“ wie eine Doktorarbeit in Psychologie. Konfettikanonen sind eloquenter.

Aber diese Beschränktheit ist selbstredend Teil des Designs. Als Simmons und Stanley Kiss gründeten, wollten sie die ultimative Rock-Band formen – und genau das haben sie getan: Kiss-Songs haben eine einzige Botschaft: Ich bin ein Rocksong, ich rocke! Sogar verdammt hart! Das funktioniert auch ohne Text: Ein ausgedehntes Gitarrensolo von Tommy Thayer, auf einer metallisch glänzende Flying V gespielt, ist musikalisch völlig sinnlos, schreit aber umso lauter selbstreferentiell heraus: Ich bin ein Gitarrensolo. Am Ende schießt Thayer Funken aus dem Gitarrenhals und auf dem Bildschirm explodiert ein Ufo. Subtil.

Feinheiten lenken nur vom Kerngeschäft ab. Wenn Stanley ein beinahe zögerliches Intro zu „Black Diamond“ auf der Gitarre spielt, oder Singer zur Zugabe plötzlich an der Rampe am Klavier sitzt und Peter Criss‘ gefühlstriefende 70er-Jahre-Ballade „Beth“ zum Besten gibt, ist das, trotz der soßigen Streicher vom Band, überraschender als jeder Pyro-Knall.

Mit „I Was Made For Lovin‘ You“ und „Rock and Roll All Nite“ werden noch einmal, weniger überraschend, die Kiss’schen Kernkompetenzen aufgerufen. Mit ganz viel Rumms und Wumms und Feuerstößen, riesigen Luftballons, Konfettigewittern und glitzernden Luftschlangen. Es ist der härteste Kindergeburtstag der Welt.