Augen ohne GesichtWie Masken unser Selbstbild verändern
- Auch in Deutschland wird über eine Maskenpflicht debattiert. Aber was hieße das für unsere Identität?
- Mit der Maske würde etwas unseren öffentlichen Alltag dominieren, das bislang das genaue Gegenteil von Alltäglichkeit markierte.
- Gesicht zeigen gehört nun einmal zu den Grundvorausstzungen menschlicher Verständigung.
Köln – In asiatischen Metropolen gehört die Atemmaske bereits seit Jahren zum Straßenbild, mit dem Coronavirus ist dieses der Medizin entliehene Kleidungsstück nun auch in Europa angekommen. Zwar debattieren Politiker und Experten noch über Sinn und Nutzen des öffentlichen Maskentragens, aber man darf wohl annehmen, dass uns dieser Modetrend beim prognostizierten Verlauf der Corona-Krise erhalten bleibt. Schwieriger ist vorherzusagen, wie die Maske unsere Selbstwahrnehmung verändern wird.
Mit der Maske erobert etwas unseren Alltag, das bislang das genaue Gegenteil von Alltäglichkeit markierte. Sie war für den geregelten Ausnahmezustand von Karneval und Fastnacht reserviert, für hoch spezialisierte und „gefährliche“ Berufsfelder und für einen kleinen, in christlichen Gesellschaften extrem umstrittenen Teil religiöser Glaubensbekundungen. Die Maske schließt ihren Träger auf Zeit aus der Gesellschaft aus, weil das Herzeigen des eigenen Gesichts nun einmal zu den grundlegenden Voraussetzungen der menschlichen Verständigung gehört. Nicht von ungefähr zählten im Mittelalter die meist Tiermotiven nachempfundenen Schandmasken zum gebräuchlichen Strafenkatalog: Als Gesicht der eigenen Sündhaftigkeit wurde das Individuum vorübergehend ausgelöscht und aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen.
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Aber was passiert, wenn die Atemmaske wie in Peking, Seoul oder Tokio in der Öffentlichkeit zum Spiegelbild und ständigen Gegenüber wird? Wenn alle Masken tragen, schließt sich tendenziell der Unmaskierte aus der Gemeinschaft aus, der Ausnahmezustand wird zum Normalfall. An diesen Gedanken muss man sich in europäischen Städten erst gewöhnen, weil es in ihnen keine vergleichbaren Erfahrungen mit Luftverschmutzung und Seuchen (mehr) gibt. Hinter Atemmasken verborgene Gesellschaften wirken zudem notwendig anonym, da kann man Passanten noch so tief in die Augen blicken oder noch so eifrig die erotische Tradition höfischer Maskenbälle bemühen. Gerade europäische Großstädte stürzt das in Identitätsnöte: Sie verstehen und vermarkten sich sehr erfolgreich als Bühnen einer feierlich begangenen (Gruppen-)Individualität.
Masken im frühen Ritus
In gewisser Hinsicht setzt sich in der aktuellen Schutzkleidung ein Erbe der frühen Riten fort, denn in diesen war die Maske ein Medium des Übergangs. Sie spielte eine zentrale Rolle im Ahnenkult, bei der Beschwörung der Götter oder bei der Initiation von Jugendlichen in die Erwachsenenwelt. In der Regel zeigte sie die stilisierten, überindividuellen Züge von Toten oder Göttern, die, so die Überlieferung, mit Hilfe von Stimme, Augen und Tanz im Maskenträger lebendig wurden. Wer die Maske trug, war Hüter eines durch Tabus geschützten Geheimnisses; seine Aufgabe bestand darin, für die Dauer des Rituals sein eigenes Ich aufzugeben, um in der Rolle eines höheren Wesens das Gruppengefühl zu stärken. Eine Schwundform dieses Glaubens findet man im familiären „Kult“ des Weihnachtsmanns, der seine unheimliche Erscheinung mit gütigen Augen ausbalanciert.
Die Maske anonymisiert
Was werden wir mit der Atemmaske vor allem verbinden: das Gemeinschaftsgefühl der bedrohten Gruppe oder die Entfremdung von uns selbst? Aktuell symbolisiert sie vor allem die Opferbereitschaft von Gesellschaften, die auf grundlegende Freiheiten und einen Großteil ihrer kulturellen und ökonomischen Produktivität verzichten müssen. Mit dem weißen Maskenstoff wird nicht weniger als die spätmoderne Hoffnung auf Glück, Wohlstand und (tendenziell) freie Identitätswahl konterkariert.
Was bleibt, ist die trotzige Gewissheit, dass sich der Mensch an Gesichtern nicht satt sehen kann. Und dass uns die Maske, wenn wir sie wieder ablegen können, schon deswegen weiter faszinieren wird, weil die Zeit in ihr stillzustehen scheint. Während wir uns aus einem jungen in einen alten und schließlich toten Menschen verwandeln, zeigt uns die Maske, dass sich diese allmähliche Verwandlung nur um den Preis der Menschlichkeit anhalten ließe.